Todesfalter
gar keine Notiz von ihr nehmen zu wollen. Allerdings murmelte er ständig etwas vor sich hin, was klang wie »Nein, nein, nein.« Aber es war so leise und undeutlich, dass Maria Sibylla sich ebenso gut geirrt haben konnte.
»Herr Doktor …« Sie rüttelte ihn und fasste seine Hand, die heiß war und trocken. Maria Sibylla war keine Ärztin, aber sie konnte den fliegenden Puls an seinem hageren Handgelenk überdeutlich fühlen und wusste, dass sein unruhiger Schlag kein Zeichen von Gesundheit war. »Herr Dr. Peller, geht es Euch nicht gut?«
Endlich schaute er ihr ins Gesicht. Sein wirrer, erschreckend dunkler Blick klärte sich langsam, und zu ihrer Erleichterung trat wieder der freundliche, gelassenkluge Ausdruck in seine grauen Augen, den sie schon beim ersten Mal an ihm gemocht hatte.
»Die Forscherin«, sagte er langsam. Dann besann er sich und zog den Hut, um so etwas wie eine Begrüßung anzudeuten. »Seid gegrüßt, Frau Gräffin. Es tut mir leid. Ein Fieber. Es … es packt mich manchmal, seit ich von der Reise zurück bin.« Er lächelte. »Die fernen Länder haben uns nicht nur schöne Wunder zu bieten.«
Ehe Maria ihn fragen konnte, wo er denn gewesen sei und ob sie etwas für ihn tun könne, zuckte er wieder zusammen und verkroch sich in sich selbst. Es sah aus, als würde der große Mann mit einem Mal hohl und klein. Sie legte ihm die Hand auf die Stirn in der Hoffnung, ihm ein wenig Kühlung zu gewähren, denn ihre Finger waren eiskalt.
»So hat man Euch denn auch herbestellt.« Er lächelte sie von unten herauf an. »Unseres kleinen …«, er suchte nach dem richtigen Wort, »… Abenteuers wegen. Bitte.«
Er griff nach ihrer Hand, um sie wegzuschieben, und sie zog sie eilig an sich, da sie ihm nicht lästig werden wollte. »Ja«, bestätigte sie. »Eben drum, wie ich vermute.«
Peller nickte versonnen. Lange starrte er in eine Ecke, bis er wieder die Konzentration zum Weitersprechen fand. »Nun, der Rat ist nicht in bester Stimmung, fürchte ich. Mein Bericht hat ihn wohl …« Peller verstummte, sein Blick wanderte unstet im Zimmer herum.
Maria konnte nicht anders, als ihn zu bemitleiden. Auch wenn sie selbst von Pellers unsinniger Diagnose überrascht und nicht wenig enttäuscht gewesen war, so konnte sie sich doch vorstellen, wie Nützel in seiner ebenso trockenen wie verletzenden Art mit einem ihm unfähig erscheinenden Arzt umsprang. »Ach, hört nicht auf ihn«, sagte sie und legte Peller die Hand auf die Schulter.
Er wandte sich ab. »Es ist nicht …«, Peller wirkte so gequält, dass in Maria ein Verdacht aufstieg, der sofort von ihren eigenen Ängsten befeuert wurde. Sie war lange genug in diesem Raum auf und ab marschiert, um sich das Schlimmste vorstellen zu können. Behutsam ging sie in die Knie, um ihm in die Augen sehen zu können. »Herr Doktor, hat man Euch etwa unter Druck gesetzt?« War es das? Bei dem Gedanken schlug ihr Herz schneller. Sie hob fragend die Brauen. »So redet doch. Mir könnt Ihr vertrauen.«
Peller wand sich. Mit der Faust vor dem Mund unterdrückte er einen Husten, der nur in einem heiseren Keuchen hervorkam, dann senkte er die Hand und schaute sie mit leerem Blick an.
Hatte man mit Bedacht einen kranken Arzt wie ihn gebeten, diese Leichenschau vorzunehmen? Einen ohne Bürgerrecht, der abhängig war von den Zuwendungen eines eingesessenen Bürgers? Lautete daher die von ihm festgestellte Todesursache »Schlag«? War das gar nicht Pellers freie Entscheidung gewesen? »Sagt«, bedrängte sie ihn und griff nach seinen Händen. »Ich will Euch bestimmt nichts Böses. Bin ich doch in derselben schlimmen Lage wie Ihr.«
Er schaute sie lange an, so als wollte er sich alle Einzelheiten ihres Gesichts einprägen. »Wunderschön«, sagte er so leise, dass Maria erst dachte, sie habe nicht richtig verstanden.
»Was sagt Ihr?«
»Wunderschön.« Jetzt lächelte er wieder. »Die Gärten des Dr. Volkamer. Menschen wie Ihr und ich, wir wissen so etwas zu schätzen.«
»Aber …«, begann Maria.
»Sch, schsch.« Er griff nach ihren Händen und tätschelte sie wie bei einem Kind. Dann neigte er sich vor und flüsterte ihr etwas ins Ohr.
Da wurde die Tür aufgerissen. »Maria Sibylla Gräffin, Frau des hier ansässigen Malers und Stechers Johannes Andreas Graff.«
Sie richtete sich auf und raffte ihre Röcke um sich. Mit einem letzten Nicken grüßte sie Peller zum Abschied. Zugleich sagte sie laut: »Anwesend.« Ihre Beine fühlten sich an, als gehörten sie
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