Todesfalter
Hinrichtung der Gebhardin. Aus irgendeinem Grund ging ihr auch Magdalena wieder durch den Kopf.
Als Maria Sibylla ans Portal von Sankt Sebald kam, achtete sie weder auf die Bettler, die in dichten Trauben auf den Stufen herumhingen, noch kümmerte sie sich um das schrille Treiben an den Buden, wo geräucherte Würste feilgeboten wurden, Kerzen und Schnaps. Ein junger Bursche nahm ihre Aufmerksamkeit gefangen. Er wedelte einen Druck in der Luft herum, auf dem in lebhaften Bildern das jämmerliche Schicksal der Hebamme dargestellt war. Der Text musste wohl ihre Verfehlungen beschreiben und ihren Tod ankündigen, denn der Junge singsangte ihn für alle, die nicht lesen konnten, laut in die Welt hinaus.
Mit einer unwilligen Geste wies Maria das angebotene Blatt zurück. Da hat der Verleger Hoffmann wieder einmal ganze Arbeit geleistet, dachte sie und ging weiter. Sie war sich nicht sicher, wo sie den Heuchlin um diese Zeit finden würde. Sollte sie in den Pfarrhof gehen und dort nachfragen, wo immer jemand saß für den Fall, dass einem Kranken die letzte Ölung gespendet werden musste? Maria zögerte. Schließlich trat sie sehr leise ein. Mit halbem Herzen hoffte sie, es wäre keiner da oder niemand würde sie bemerken. Als sie fast schon wieder gehen wollte, entdeckte sie eine angelehnte Tür. Sie schob sie vorsichtig einen Spaltbreit auf, warf einen Blick ins Zimmer und zuckte zusammen, als sie tatsächlich die große, wie immer ein wenig zusammengesunkene Gestalt Heuchlins entdeckte.
Maria holte tief Atem, im Geiste legte sie sich die ersten Worte zurecht. Irgendetwas jedoch ließ sie innehalten. Sie hätte selbst nicht genau sagen können, was es war. Der Diakon wirkte so abwesend, er bemerkte gar nicht, dass jemand dastand und ihn intensiv betrachtete. Und doch ging eine ungeheure Energie von ihm aus.
Heuchlin schaute aus dem Fenster. Sein Blick war starr, er hielt fest, was er sah, als wollte er es nie mehr loslassen. Sein Gesicht allerdings wirkte entgleist, der Mund stand offen, die Züge waren verzerrt. Maria hatte ihn noch nie so gesehen.
Jetzt stieß der Diakon einen Laut aus und wischte sich über den Mund. Maria hörte ein Schmatzen, dann sah sie, zu ihrem Entsetzen, wie er sich in den Handknöchel biss, genau an der Stelle, an der der Daumen ansetzt. Es musste weh tun, aber von Heuchlin war kein Ton mehr zu hören.
Maria konnte nicht anders. Sie wagte zwei, drei Schritte in das Zimmer hinein, um zu sehen, was den Diakon so sehr beschäftigte. Mit angehaltenem Atem schob sie sich Schritt für Schritt vor. Endlich kam das Fenster in ihren Blick. Dort draußen, in einer Sonne, die so grell schien, dass sie alle Farben bleich wirken ließ, stand ein junges Mädchen. Es mochte eine Dienstmagd sein, sie hielt einen Eimer auf der Hüfte und unterhielt sich mit jemandem, der von Marias Platz aus nicht zu sehen war. Sie plauderte lebhaft und lachte viel, dabei wiegte sie sich in der Hüfte und wickelte halb kokett, halb selbstvergessen das Ende ihres Zopfes um die Finger ihrer linken Hand. Jetzt lachte sie lauthals.
Heuchlin ballte die Fäuste.
Maria wünschte sich, sie wäre niemals hierher gekommen. Schritt für Schritt, wie sie gekommen war, zog sie sich wieder zurück. Um keinen Preis der Welt wollte sie jetzt entdeckt werden. Vor Anspannung zitternd arbeitete sie sich auf die Tür zu. Da knarrte eine Diele vernehmlich unter ihrem Tritt.
Der Diakon fuhr herum. Mit derselben Gier, mit der er eben noch das junge Mädchen angestarrt hatte, blickte er auf Maria, ohne sie gleich zu erkennen. Mit einem Schlag verdüsterte sich dann sein Gesicht.
»Ich …«, setzte Maria an, doch ihr fehlte der Mut. Sie wirbelte herum, nahm die Röcke in die Hand und floh. So schnell sie konnte, rannte sie durch den Gang, zur Tür hinaus, am Chörlein vorbei und weiter, immer weiter, bis das Gedränge sie verschluckt hatte.
Es dauerte lange, bis sie nicht mehr das Gefühl hatte, sein Blick bohre sich zwischen ihre Schulterblätter, durch den Stoff des Kleides hindurch, bis auf ihre nackte Haut.
Mehr denn je war Maria Sibylla sich nun sicher, im Fall Beata Gebhardin auf der richtigen Spur zu sein. Was bisher nur ein Verdacht gewesen war – genährt, wie sie selbst zugeben musste, vor allem durch ihre Abneigung –, das war ihr durch Heuchlins Verhalten zur Gewissheit geworden. Der Diakon war krank, er war gefährlich, da war etwas in ihm, das nur darauf wartete, herauszubrechen. Sie schauderte noch immer bei dem Gedanken
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