Todesfalter
den bewusstlosen Mann zu ihren Füßen. Und so fand sie der Gärtner, der umgehend Dr. Volkamer benachrichtigte und dieser den Rat.
40
Die Jungfern der Companie stützten abwechselnd Maria Sibylla auf dem langen, langen Weg von den Volkamer’schen Gärten zu ihr nach Hause. Dort sank ihre Lehrerin ins Bett und schlief mehr als zwanzig Stunden am Stück. Erst wachte Bärbel bei ihr, dann Susanna und Dorothea, später auch Clara.
Diese tauchte erst am Abend zur Überraschung aller wieder auf, mit der kleinlauten Magdalena im Schlepptau. Clara war wütend, Magdalena beleidigt, doch ihr Streit verflüchtigte sich angesichts der Sorge um Maria. Mit wenigen Worten erklärte Clara den anderen, dass sie Magdalena schlicht in ihrem Elternhaus gefunden hatte – unter dem Schreibtisch ihres verstorbenen Vaters, wo sie am Vorabend eingeschlafen war. In ihrem Kummer und Trotz hatte sie sich dort verkrochen, wo sie sich immer schon vor der Welt versteckte, wenn ihr danach war. Aus Magdalena war nicht herauszubekommen, was der Diakon mit ihr besprochen hatte, aber sie wirkte zerknirscht und traurig. »Ich wollte alleine sein.« Mehr war zu dem Thema nicht zu erfahren.
Clara wusste nicht, auf wen sie wütender sein sollte: auf die Freundin mit ihrem seltsamen Verhalten oder auf deren Mutter, die nicht begriff oder nicht begreifen wollte, dass ihre Tochter ein echtes Problem hatte. »Ich habe sie inständig gebeten, dieses verdammte Zimmer ein für alle Mal aufzulösen. Um Magdalenas willen.« Clara war noch blasser als sonst, so sehr hatte sie das alles mitgenommen.
Das und vieles andere besprach Clara mit den anderen Jungfern im Flüsterton in der Graff’schen Schlafkammer, während Magdalena mit dem Rücken zu ihnen dasaß und unverwandt Marias Hand hielt, als könnte sie dadurch etwas wiedergutmachen.
»Bild dir bloß nicht ein, dass du sie auch noch irgendwie ins Jenseits führst«, schnauzte Dorothea sie an, als es ihr zu viel wurde. »Die Frau wird das hier nämlich überleben.«
»Ich weiß«, flüsterte Magdalena nur und sah sie waidwund an.
Mit einem »Ach!« nahm Dorothea der Magd Anna, die ratlos in der Tür stand und nicht zum Bett vordringen konnte, die Wasserschüssel ab, um Maria Sibylla selbst die verschwitzte Stirn zu kühlen.
»Eins muss man ja sagen«, bemerkte Susanna dazu und warf einen vielsagenden Blick auf Magdalenas Rücken. »Ich kann den Diakon auch nicht leiden, aber er scheint bei unserer Verrückten doch ganze Arbeit geleistet zu haben. – Stimmt’s, Schätzchen?«, fragte sie dann Lenchen, die sich ihren Schoß ausgesucht hatte, um von da aus ihre seltsam fremde Mutter zu betrachten. Maria wirkte wie einer ihrer »Dattelkerne«: in sich eingesponnen und reglos. Man konnte nichts weiter tun als beobachten und warten, bis das Leben, das doch darin war, sich regen würde. Lenchen jedoch war mit anderen Überlegungen beschäftigt. »Mich hat der Diakon heute gelobt für einen Vers, den ich aufsagen konnte«, verkündete sie und begann in der Hoffnung auf noch mehr Lob das Kindergebet noch einmal herzuleiern.
»Ach, du Süße«, rief Susanna und drückte sie, da es nichts Vernünftigeres zu tun gab, heftig an sich.
Warten war eine Disziplin, in der die Jungfern der Companie bei Weitem nicht so gut waren wie ihre Lehrmeisterin. Deshalb machten sie sich daran, die Stiche weiter zu kolorieren, die Maria Sibylla für ihr Blumenbuch angefertigt hatte. Es war ihre Art zu zeigen, dass sie an eine Genesung ihrer Freundin glaubten. In jedem Eck des Raumes, Pergament auf den Knien und Pinsel in den Händen, den Mund angespannt und die Augen müde vom Kerzenlicht, aber eifrig wie Musterschülerinnen, saßen sie da und malten. Falter um Falter erstand in seiner ganzen Farbenpracht. Und dann wachte Maria auf.
41
»Bärbel, lass doch das Pfauenauge fliegen. Wir suchen einen Blauen. Schon vergessen?«
Die Freundinnen lachten, als sie Barbara – die Lippen zwischen den Zähnen vor Eifer, das Netz in der einen und ihre sämtlichen Röcke in der anderen Hand – über den kleinen Graben setzen sahen. »Ja«, rief Dorothea, »den verkauft die Gräffin einem Frankfurter Bankier und wird dabei reich.«
»Und wir brechen uns die Knochen«, fügte Susanna hinzu beim Versuch, einen knorrigen Apfelbaum zu besteigen, dessen Äste jetzt unter ihrem Gewicht bedrohlich knackten.
»Komm da lieber runter«, warnte Clara und wandte sich Maria Sibylla zu, die damit beschäftigt war, einen Zitronenfalter
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