Todesfalter
bringen und nicht etwa die Umrisse fremder Raupen, musste ja nicht für jeden gleich ersichtlich werden. Vielleicht ergab sich sogar die Gelegenheit zu beidem.
Langsam spürte Maria Sibylla die wohlvertraute, wunderbare Aufregung des Forschens in sich aufsteigen. Sie würde Neuland betreten, mit jedem Blick würde sie unbekannte Dinge, fremde Sachverhalte erfassen. Es galt offen zu sein und achtsam. Eine kribbelnde, ganz und gar positive Erregung erfasste sie.
»Ah, die Wissenschaftlerin ist da.«
Dr. Peller, dessen Gestalt ihr nun schon so vertraut war mit der altmodischen Perücke unter dem Hut, trat auf sie zu und grüßte sie formvollendet.
Maria Sibylla lächelte.
»Wollen wir?«, fragte er und stieß das Tor auf. Es knarzte verheißungsvoll in den Angeln.
»Ich kann Euch natürlich keinen Malvasier anbieten, wie Ihr es sicher gewohnt seid.«
Clara versicherte der Frau des Diakons, das sei gar nicht nötig. Unwohl lehnte sie sich in dem Stuhl zurück, den die Heuchlinin ihr in die Schlafkammer hatte tragen lassen. Die Frau schien es gewohnt zu sein, all ihre Geschäfte vom Bett aus zu regeln, soweit sie überhaupt in das Tagesgeschehen des Hauses eingriff. Die Luft war zum Schneiden dick, ein Gemisch aus Schweiß, schlechtem Atem und kaltem Kohlenrauch. Auf der Truhe und dem Wandbord lag fingerdick der Staub, der Boden klebte von Essensresten und Schlimmerem, die Bettschüssel hätte längst aus dem Fenster geleert werden müssen. Die Mägde schienen das Krankenzimmer nur ungern zu betreten. Ob der Diakon je hier hereinkam? Eher nicht, vermutete Clara, denn die Heuchlinin hatte zwei Kissen in ihren Rücken geschoben, es gab nur eine Decke, und die Kuhle in der strohgestopften Matratze befand sich in der Bettmitte. Clara war stolz auf ihre Beobachtungsgabe. Maria, dachte sie, die jedes Härchen an einem Raupenbein entdeckte, hätte das nicht besser machen können.
Die Frau wirkte eher ungewaschen als krank. Das graue Haar hing ihr in nachlässig geflochtenen Zöpfen aus der Haube heraus, ihr Nachthemd war mit Soße bekleckert – aber sie schien nicht abgemagert, und ihre Haut war rosig. Zwar sprach sie mit einer dünnen, leidenden Stimme, doch sprach sie ununterbrochen. Die Luft schien ihr nicht auszugehen, wenn sie die vielen Vergehen ihres Mannes aufzählte, der sie vernachlässigte und missachtete, wo er nur konnte. Auch jetzt wusste sie nicht, wo er steckte. »Mir sagt er ja nie etwas, keiner spricht mit mir. Sie verzehren mein Geld und lassen mich hier verkommen.«
Mit leichtem Ekel betrachtete Clara die Heuchlinin. Was tat sie nur den ganzen Tag, womit brachte sie die Zeit hin? Clara konnte nirgends einen Stickrahmen oder sonst eine Handarbeit entdecken, mit der gottesfürchtige Frauen die gefährlichen, dem Herrn nicht gefälligen Stunden des Müßiggangs vertrieben. Es wunderte sie, dass der gestrenge Diakon dergleichen in seinem eigenen Heim duldete. »Also dann«, brachte Clara hervor und stand auf. Sie suchte nach dem passenden Wort für einen schnellen Aufbruch. Es war gar nicht so einfach, der Heuchlinin zu entkommen. Kein Wunder, dass der Diakon nach allem, was man hörte, so überaus fleißig und geschäftig in der Gemeinde war.
»Aber so bleibt doch. Ihr habt mir noch gar nicht Euer Anliegen vorgetragen. Worum geht es denn?« Im Gesicht der Bettlägrigen zeigte sich eine Gier, die Clara geradezu erschreckte. Diese Frau, die nie aus ihrer Kammer herauskam und die Welt nur noch durch die trüben Scheiben ihres stets geschlossenen Fensters sah, litt an einem Hunger nach Leben, den sie in Ermangelung eines eigenen Lebens am Schicksal anderer stillte. Dieser Frau etwas von Magdalena zu erzählen, wäre nicht klug. Nein, die Heuchlinin auch nur nach ihr zu fragen, wäre gerade so, wie es dem Nachtwächter zum Ausrufen zu geben. Da konnte sie ebenso gut gleich zum Rat gehen oder sich den Zorn der Fürstin zuziehen.
»Ihr wollt wirklich schon gehen?« Anklage, regelrechte Panik lag in der Stimme der Heuchlinin.
»Ich muss zum Kursus bei der Gräffin«, log Clara und bat ihren Schöpfer um Vergebung für diese Notlüge. »Sie unterweist uns im Sticken und Aquarellieren, müsst Ihr wissen. Und sie hält sehr auf Pünktlichkeit.«
»Ist das nicht die Falterfrau?«, fragte die Heuchlinin und fuhr, ohne eine Antwort abzuwarten, fort: »Mein Gatte sagt, sie hat Probleme mit dem Rat und wird sich bald verantworten müssen. Sie soll nicht christlich sein. Gebt gut acht, wenn Ihr dort
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