Todesfalter
eine umgefallene Puppe.
Peller neigte sich über sie. »Auf mir trampelt keiner mehr rum. Hörst du? Almosen, Drecksarbeit. Ihr kennt mich alle nicht.« Unter Schimpfen und Keuchen begann er, ihre Röcke einen nach dem anderen hochzuschieben. Maria war wie gelähmt. Sie konnte nichts anderes tun als den Blick von ihm abwenden, hin zu dem Tisch, auf dem sich ihre Schächtelchen und Gerätschaften stapelten. Dort lag auch das kleine Messer, sie konnte die Scheide sehen, direkt neben dem Krug mit dem verdammten Wein. Es war gar nicht weit weg – und doch völlig außerhalb ihrer Reichweite. Sie griff in Gedanken danach, um es dem Mann in die Kehle zu stoßen, aber es blieb Bestandteil des friedlichen Stilllebens auf dem Laubentisch. Und dahinter verschwamm vor ihren Augen der blühende Garten. Zwischen den Weinreben sah sie einen Falter hervortrudeln: schwarz, mit einem Kranz orangefarbener Augen, die sie verständnisvoll ansahen. Er umhüllte sie mit seinen Flügeln, machte sie frei, nahm sie mit. Ihr Todesfalter. Wunderschön.
39
»Maria? Maria!«
Endlich schlug Maria Sibylla die Augen auf und blickte in das vertraute Gesicht Dorotheas, die sich besorgt über sie neigte.
»Ich …« Mehr brachte Maria nicht heraus. Auch den Arm auszustrecken, gelang ihr nicht so recht. Aber ihre Freundin verstand sie auch so und half ihr zum Sitzen auf. »Wo …?«, fiel es ihr dann ein. Ihr gehetzter Blick irrte umher.
Susanna hinkte beiseite und gab die Sicht auf Peller frei, der regungslos am Boden lag. »Keine Sorge«, sagte sie. »Den haben wir außer Gefecht gesetzt.« Dann prustete sie mit einem Mal los. »Dorothea hat den Krug genommen und ihm einfach über den Kopf gezogen. Stell dir vor! Er ist gefallen wie eine Eiche.« Sie konnte sich gar nicht wieder einkriegen. Angst und Aufregung lösten sich in einem langen Lachanfall.
Dorothea wurde glühend rot, nickte aber stolz. Auch Barbara war ganz ergriffen von der eigenen Courage. Verschwunden aus ihrem Blick die ewige Frage, ob man auch nichts Verbotenes tat.
»Es war Barbara«, rief Dorothea. »Sie hat gesagt, dass wir keine Angst haben dürften, genau wie du. Da haben wir dann auf die Wachen gepfiffen und die Väter und alle …« Sie verstummte. Ihr Blick wanderte zu Peller hinüber, der sich noch immer nicht regte. »Warum ist er auf dich los?«, fragte sie und klang mit einem Mal wie ein sehr junges Mädchen.
»Er hat die Beata erwürgt. Er hat’s mir gestanden.« Maria Sibylla musste husten. Sofort wollte Susanna ihr einen Becher Wein reichen, aber Maria winkte ab. »Gift«, flüsterte sie. – »Nein, nicht wegschütten«, brachte sie gerade noch heraus, als Susanna ausholen wollte, um den Krug weit fort von sich in den Garten zu schleudern wie ein gefährliches Tier. »Der Lochschöffe soll den Inhalt prüfen lassen. Zum Beweis.«
»Lochschöffe ist immer noch mein Papa«, fiel es Barbara ein. »Wenn es mit Beata zu tun hat, dann macht er das.«
»Als ob das jetzt so wichtig wäre«, fuhr Dorothea sie an. Sie betrachtete den bewusstlosen Peller mit schräg gelegtem Kopf. »So ein Mistkerl.«
Susanna bekreuzigte sich, dann versetzte sie ihm einen Tritt.
»Wollte er dich etwa auch …?«, fragte Barbara.
Maria nickte.
Mit einem Mal schwiegen alle betroffen. Nach einer Weile nahm Dorothea Marias durcheinandergeratene Röcke und zog sie glatt. Ihre Hände zitterten bei dem Gedanken an alles, was hätte geschehen können.
Maria dankte ihr mit einem schwachen Lächeln. »Ich glaube …«, flüsterte sie heiser, aber es fiel ihr nicht ein, was sie glauben sollte.
»Wollen wir ihn einfach so liegen lassen?«, fragte Barbara hoffnungsvoll.
Es war ein verlockender Gedanke für Maria. Einfach weggehen, alles zurücklassen und vergessen, hoffen, dass Peller sich in Luft auflöste und mit ihm alle Sorgen und Nöte. »Nein«, sagte sie dann. »Da würde niemand je erfahren, was er getan hat. Er würde dem Rat weiterhin erzählen, dass Beata an einem Schlag starb. Ich würde als eine betrunkene Frau auf Abwegen dastehen. Und irgendwann würde es die Nächste treffen.«
»Das hättest du sein können.« Susanna trat an Maria heran und rieb ihr den Arm.
»Ja, ohne euch hätte das ich sein können.«
Barbara machte große Augen. »Magdalena!«, rief sie aus. »Und Clara!«
»Ich weiß nicht, ob er die beiden auch …«, brachte Maria hervor. »Ich weiß es einfach nicht.«
So blieben sie lange sitzen, alle vier auf einer Bank, die Arme umeinander geschlungen,
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