Todesflirt
ihn anmeckern? Beleidigt sein? Verständnisvoll? Oder gar so tun, als sei nichts geschehen?
Erst einmal war er nicht da. Ich spähte unauffällig herum, ob vielleicht Annegret wieder gesund war und David die nächsten Tage gar nicht kommen würde. Mist – wenn das so wäre, hätte ich überhaupt keine Chance, ihn zu erreichen. Außer, ich würde im Büro des Vereins anrufen und mir eine mehr oder minder fadenscheinige Geschichte einfallen lassen, warum ich unbedingt seine Adresse oder Telefonnummer bräuchte. Aber von Annegret war keine Spur zu sehen.
Der Morgenkreis hatte schon angefangen, als er kam. Er wirkte verschlafen und ziemlich zerknittert. Und er wich meinem Blick aus. Hab dich lieb, hatte auf seinem Zettel gestanden. HAB DICH LIEB! Warum benahm er sich dann nicht so?
Erst nach der Mittagsruhe, als die Kinder in den Garten hinausgingen, erwischte ich ihn allein und schob ihn hinter das Mäuerchen, wo die Mülltonnen standen.
»Was war?«, fragte ich und mir zitterten die Hände hinter meinem Rücken. Er hob kurz die Schultern, sah sich schnell um und dann strich er mir über die Wange.
»Tut mir leid«, sagte er. »Manchmal, da … da muss ich einfach allein sein. Ich bin dann eine Zumutung für andere.« Ich sah ihn verständnislos an.
»Ich kann dir das nicht erklären«, fuhr er fort. »Sei nicht böse! Hat nichts mit dir zu tun. Ist einfach so. Ich arbeite dran.«
Ist einfach so. Aha. Und das sollte ich jetzt geradewegs schlucken.
»Aber, aber«, stotterte ich. »Kannst du nicht versuchen, es mir zu erklären?« Er schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte er. »Nein. Das kann man nicht erklären. Tut mir leid!« Und dann machte er etwas ganz Gemeines: Er beugte sich vor und küsste mich. Ehe ich zurückzucken konnte. Und ich verzieh ihm alles, Hauptsache, er küsste mich.
»Liebespaaa – küsst euch maaa!«, schrie plötzlich eine piepsige Stimme neben uns.
»Teiki, ihr sollt nicht hier beim Müll spielen«, erwiderte David völlig gelassen und der Junge grinste ihn breit an. Ich beugte mich zu ihm hinunter.
»Hey, Teiki, das ist jetzt aber unser Geheimnis, gell?!«, flüsterte ich ihm ins Ohr. Keine Ahnung, ob das pädagogisch akzeptabel war. Teiki jedenfalls strahlte begeistert. Erst als er schnurstracks zu seinem Freund Lucius rannte und schon von Weitem rief: »Ich hab ein Geheimnis, ich hab ein Geheimnis«, wurde ich leicht verunsichert. David dagegen wirkte ruhig.
»Müssen wir es denn auf Dauer verheimlichen?«, fragte er.
»Was?«
»Dass wir ein Paar sind«, sagte David, ohne zu zögern.
Wir gingen zwischen den Mülltonnen in die Hocke und küssten uns gleich noch einmal.
»Vielleicht gibst du mir endlich mal deine Handynummer«, fiel mir schließlich noch ein. »Dann kann ich dich in einem weiteren solchen Fall mit Anrufen und SMS belästigen.«
»Ich hab keins«, sagte David.
»Wie? Du hast kein Handy?« Er schüttelte die kurzen Locken.
»Kein Geld für so was. Und brauchen tu ich es auch nicht.«
»Jetzt schon!«, lachte ich. »Dann verrate mir wenigstens deine Festnetznummer und wo du wohnst. Sonst habe ich glatt den Eindruck, ich hab mich in ein Phantom verliebt, das es gar nicht gibt.«
»Kunihohstraße 9a«, sagte er. »Das mit dem Festnetz ist ein Problem. Mein Provider bringt es jetzt schon seit Monaten nicht fertig, dass das Telefon angestellt wird. Die versprechen immer, es kommt einer, aber es kommt dann doch keiner. Ist so eine Souterrain-Einliegerwohnung und der Anschluss muss neu gelegt werden und so. Scheint eine total schwierige Sache zu sein.«
»Okay, Mister No-Telefon, dann besuche ich dich wenigstens morgen Abend in deiner Kunihohstraße, um zu sehen, dass du nicht nur in meiner Fantasie exisitierst, okay?«
Er nickte.
»Vielleicht könnte ich dir eine E-Mail als Erinnerung schicken, dass ich morgen komme«, lachte ich.
David sah etwas betreten zu Boden. »Na ja, weißt du«, er sprach leise. »Für einen PC oder so hab ich auch kein Geld. Mit den 350 Euro Bufdi-Geld im Monat komme ich nicht weit. Und meine Eltern zahlen mir keinen Cent.« Ich legte den Kopf schief und grinste ihn mit einem lasziven Augenaufschlag an.
»Nicht so schlimm – dich muss man sowieso live erleben. Alles andere wäre vertane Zeit.« Langsam näherte sich sein Gesicht meinem. Diese Augen … Hilfe, ich ertrinke! Doch bevor er mich noch einmal küssen konnte, leuchtete Jessicas kuperfarbener, kinnlanger Bob über die Mauer. Mit zwei vollen Mülltüten kam sie um die
Weitere Kostenlose Bücher