Todesflirt
Mein Körper zitterte, ich war kurz davor, ohnmächtig zu werden.
»Warte«, sagte ich, ohne die leiseste Idee, wie ich ihn aufhalten konnte.
Laufen, laufen, laufen, atmen, laufen, laufen, laufen, autsch, laufen, laufen, laufen, hell, laufen, laufen, laufen …
»Erklär mir, wie stellst du dir eine bessere Welt vor?« Der Pistolenlauf tänzelte an meiner Schläfe, der Druck nahm ab, nahm zu, nahm ab.
»Eine bessere Welt? Das ist doch ganz einfach. Alles unwerte Leben verschwindet – Gesocks wie deine Schwester. Alle Andersdenkenden, Andersartigen. Schwule, Juden, Ausländer – alles Abschaum. Deutschland muss wieder den Deutschen gehören. Wir fordern die Grenzen des Großdeutschen Reiches. Die Abschaffung des jüdisch durchseuchten Kapitalismus.« Er leierte beinah, klang wie ein Automat, der einen einprogrammierten Vers aufsagte.
»Aber warum? Uns geht es doch gut in diesem Land! Menschen aus anderen Teilen der Welt bereichern uns doch.«
»Nein, alles überfremdet, wo sind die guten, alten Werte? Treue zum Vaterland, Pünktlichkeit, Nationalstolz, Ordnung, Kameradschaft, nichts mehr da, gar nichts mehr. Nur Lug und Trug. Diese Sozialschmarotzer – klauen unseren Rentern das Geld, denen, die für unser Land in den Krieg gezogen sind.« Ich konnte nicht anders, ich musste lachen. Das konnte er doch unmöglich ernst meinen?
»In einen Krieg, den unser Land angefangen hat«, hörte ich Malte sagen.
»Ach was, die Besatzer, vor allem die vom Judentum unterwanderten Amis, haben nach 45 alles in ihrem Sinne institutionalisiert, haben die Geschichte gefälscht. Holocaust? Eine miese Erfindung! Ihr habt doch eine Gehirnwäsche hinter euch – und ihr habt es nicht mal gemerkt!«
»Nein, wir haben uns mit unserer Geschichte auseinandergesetzt, wir haben gelernt, dass Nationalsozialismus nie wieder zugelassen werden darf. Nirgendwo! Nationalsozialismus ist keine Weltanschauung, das ist ein Verbrechen«, entgegnete ich ihm. Der Schweiß lief mir über die Augen, die Nase, sogar den Hals hinunter. Ich wusste nicht, wie lange ich unter diesem stickigen Sack noch durchhalten würde. Aber ich musste. Immerhin hielt mein Körper wieder ruhig. Meine Kehle brannte vor Durst.
»Siehst du mal, wie gut die Indoktrination funktioniert hat, du linke Spießerin«, höhnte er. »Genug geschwafelt. Ich will meine Zeit nicht mit euch vergeuden. Ich habe ein neues Weltreich aufzubauen.«
Wieder spürte ich die Pistole an meiner Schläfe. Ich hielt die Luft an.
Laufen, laufen, laufen, atmen, laufen, laufen, laufen, Weg, laufen, laufen, laufen, Haus, laufen, laufen, laufen, aufatmen …
»Aber Thor«, sagte Malte. Wie konnte er so ruhig klingen? »Überleg doch mal. Was haben die Nazis mit Leuten wie uns gemacht?«
»Abgeknallt.«
»Oder sie für sich arbeiten lassen. Waffen bauen, Produktionsgeräte für die arische Bevölkerung, Steine geklopft, Autobahnen asphaltiert. Wenn du uns auch noch ermordest und sie dich kriegen – und ich bin überzeugt, dass sie dich kriegen werden –, dann kannst du deinem Vaterland nicht mehr dienen. Du weißt, wie das im Knast ist. Da fängst du ganz unten an. Da musst du dir erst den Arsch aufreißen lassen, bevor sie dich akzeptieren. Sogar deine Gesinnungsgenossen werden dich hart rannehmen. So dumm bist du doch nicht, oder?«
Die Waffe sank. Torstens Schritte entfernten sich. Seine Stimme kam aus der Richtung, in der Malte stand.
»Ach und da soll ich euch zum Arbeitsdienst einsetzen? Arbeit macht frei! Da hast du allerdings re...« Ein Aufschrei unterbrach seine Worte, es polterte. Scheiße, ich ruckelte an meinen Fesseln, ich versuchte, durch den Stoff irgendetwas zu erkennen. Kaum Schemen waren zu sehen.
Ich hörte Keuchen, Tritte, Aufstöhnen – ich konnte nicht zuordnen, wer von beiden welche Geräusche von sich gab. Endlich eine Hand, die mir den Sack vom Kopf riss. Maltes erhitztes rotes Gesicht neben mir. Seine blauen Augen ganz dicht vor mir, seine Hände an meinem Körper, ich spürte, wie das Seil fiel.
»Achtung«, konnte ich noch schreien, dann hatte ihn Torsten von mir weggerissen. Ich strampelte, wand mich, das Seil wurde immer lockerer. Über die Schulter sah ich, wie die beiden Männer über den Waldboden rollten, abwechselnd die Fäuste erhoben zum Zuschlagen.
Endlich konnte ich mich bücken, das Seil um meine Füße mit den noch immer von Kabelbinder gefesselten Händen entfernen. Als ich so weit war, saß Torsten auf Maltes Brustkorb. Der versuchte, sich
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