Todesflirt
Schulter gucken konnte. Ich schloss die Augen.
»Robin, Robin«, murmelte Torsten. »Was bist du nur für ein Idiot. Dachtest, wir würden dir einfach tatenlos zuschauen. Dachtest, du könntest einfach so aussteigen, dich vom Acker machen.« Er drehte sich zu Malte, ging dicht an ihn heran, blitzende Augen, Zornesröte im Gesicht. Die Speicherkarte zog er aus seinem Handy heraus. Mit einem lauten Knacken brach er sie in zwei Teile.
»Aber er war ein Verräter – und Verrätern gebührt die Todesstrafe. Er war selbst schuld!« Malte hob den Kopf, schloss die Augen. Aber ich sah, wie es in ihm arbeitete. Eine Bewegung lenkte mich von der Szenerie ab. Ich sah zur Hütte hinüber, keine 15 Meter entfernt. Juli stand im Eingang – sie hatte es offenbar geschafft, ihre Fußfesseln abzustreifen.
»Lauf«, schrie ich ihr zu und bereute es sofort. Torsten drehte sich blitzschnell um, erkannte meine Schwester.
»Lauf«, schrie ich wieder, aber Juli sah mich nur mit schreckgeweiteten Augen an.
»Lauf, lauf, lauf«, machte ich weiter. Sie fuhr sich nervös mit der Zunge über die Oberlippe. Torsten machte ein paar Sätze auf sie zu.
»Lass sie laufen«, sagte Malte ruhig. »Du hast, was du wolltest – den Film, mich. Juli hat nichts mit alldem zu tun.« Torsten verharrte in der Bewegung. Schien nachzudenken.
»Aber sie ist unwertes Leben.« Seine Stimme klang trotzig.
»Wie hast du dich immer genannt?« Malte überlegte. »Herr über Leben und Tod! Dann entscheide dich jetzt, sie leben zu lassen. Sie ist nur ein Kind. Sie kann dir nicht schaden. Schließlich ist sie dumm.« Torstens Blick wanderte zwischen ihm und ihr hin und her. Er versuchte wohl abzuschätzen, ob es notwendig war, sich weiter mit Juli zu beschäftigen.
»Lauf«, ich brüllte, so laut wie ich konnte. Torsten machte kleine, rasche Schritte in ihre Richtung. Juli sprang mit einem Satz zurück – und dann streckte sie ihren Körper und rannte los. Sie lief nicht in die Richtung, aus der wir gekommen waren, sondern direkt in den Wald. Oh Gott, hoffentlich verirrte sie sich nicht komplett in diesem Dickicht.
Laufen, laufen, laufen, atmen, laufen, laufen, laufen, atmen, laufen, laufen, laufen, Weg, laufen, laufen, laufen, atmen, laufen, laufen, laufen …
»Okay«, Torsten grinste jovial. »Sie wird sowieso nicht weit kommen. In diesem schönen deutschen Wald gibt es sogar noch Wildschweinrotten.« Er griff in seinen Rucksack, der zu Füßen der Bäume lag. »Bringen wir es schnell hinter uns.«
Er zog zwei Jutesäcke aus dem Rucksack hervor. Einen davon zog er Malte, den anderen mir über den Kopf. Die Fasern kratzten über mein Gesicht, der Geruch erinnerte an alte, nasse Gegenstände auf verlassenen Dachböden und ich musste würgen.
»Ihr glaubt doch nicht etwa, dass ich euch laufen lasse«, höhnte er. »Ich habe nicht den langen Weg, diese genaue Vorbereitung unternommen, um euch dann einfach davonkommen zu lassen. Malte ist ein Verräter. Er muss bestraft werden. Ich wollte schon immer mal so ein echtes Erschießungskommando nachstellen.« Er seufzte vor Wonne. »Und du – du bist Mitwisserin, ein Kollateralschaden. Aber für die schöne, neue Welt, die ich im Sinn habe, muss man eben Opfer bringen.«
»Nein, nein«, stammelte ich. Mein ganzer Körper fühlte sich wund an, bestand nur aus Panik, Angst. Es konnte, es durfte doch nicht sein, dass jetzt und hier schon mein Leben enden würde!
»Sie werden dich finden«, sagte Malte und seine Stimme war fest und klar. »Und du weißt das. Es wird dir nicht gelingen, ein neues Reich aufzubauen. Dafür bist du viel zu untalentiert. Viel zu eitel.«
Schritte raschelten über den Waldboden, ein Klatschen. Keine Reaktion von Malte.
»Halt ’s Maul.«
»Ich habe viel zu lange mein Maul gehalten. Robin und ich – wir hätten schon viel früher aussteigen sollen. Deine Sprüche sind doch alle hohl und inhaltsleer. Wenn man das einmal durchschaut hat, dann fragt man sich, warum einem das nicht gleich aufgefallen ist. Man ekelt sich vor sich selbst. Und wie man sich ekelt – fast zu Tode ekelt man sich.«
»Du hast doch keine Ahnung, du Schwächling. Ich erschieße dich jetzt.« Man hörte, wie er den Hahn spannte. Ein Schrei entfuhr meiner Kehle, ungeplant, unvermeidbar. Schritte.
Eine Hand packte mich an der Gurgel, schüttelte meinen Kopf hin und her.
»Ich erschieß erst deine Hure«, schrie Torsten. »Das ist eine noch bessere Strafe für dich.« Etwas Hartes drückte an meine Schläfe.
Weitere Kostenlose Bücher