Todesformel
Stadt. Ich trete von der Treppe, gehe elegant beschwingt auf halbhohen Stöckeln, fühle mich gut mit frisch gebrushten Haaren, wende mich nach rechts, vorbei an den protzigen Auslagen der Bijouterie. Mein Ziel ist ein kollegiales Gespräch in einer der angesehenen Kanzleien mit Sitz im großen Glashaus. Ich werde erwartet und freue mich, als wäre das eine Auszeichnung. Ich gehe am Eingang des Nobelhotels vorbei, gehe sogar zwei Schritte über den roten Teppich, vorbei am Krawattengeschäft. Wie von einem Gummizug gehalten stoppe ich den Schritt, drei Schritte rückwärts, da: links vorn in der Auslage die Maulbeeren, violettschwarze Maulbeeren auf einem lindengrünen Tuch, Aljas Bild, die Maulbeeren meiner Mutter: vier Reihen hoch, vier Reihen zur Seite, alle in Reih und Glied mit den exakten grünen, roten, gelben Tüpfchen. Auch hier, diese eine Maulbeere, die dritte in der zweiten Reihe, auch sie steht auf dem Kopf, doch halt. Die Struktur ist gleich wie die der anderen, Tüpfchen. Das ist es. Ein Seidenschal. Schon wieder fühle ich Tränen aufsteigen, ich bin ja labil geworden. Jetzt keine Rührung, keine verschmierte Wimperntusche und kein verlaufender Lidstrich. Schon stehe ich im Geschäft, kaufe dieses, genau dieses grüne Tuch im Schaufenster. Ich bezahle bar, trage es gleich – Politikerin oder eben erfolgreiche Anwältin. Beim Verlassen des Geschäfts fühle ich mich noch einmal fünf Zentimeter gewachsen. Es bringt mir Glück.
* * *
Ein langes Telefongespräch mit Dorothy, eines in einer ganzen Reihe. Bei Dorothy dürfte ich jammern. Ich denke, sie wartet darauf, dass ich meine Starre verliere, ihr endlich Vorwürfe mache. Sie versucht, mich mit Noëls Heuschnupfen zu ködern. Es klingt ganz amerikanisch: Heuschnupfen lässt sich völlig beheben. Ein Spezialist, Kapazität für Bioresonanz, natürlich gleich der weltweit beste, lebt in New York, Dorothy zählt ihn zufällig zu ihren Freunden.
»Ihr seid ja jetzt in einer freien Schule, da spielen doch drei Tage keine Rolle.«
Es ist eine Einladung, selbstverständlich übernimmt Dorothy die Kosten für die Tickets und den Aufenthalt in einer Pension gleich um die Ecke, ein Tapetenwechsel täte mir gut.
»Ich brauche keinen Tapetenwechsel. Ich habe hier ein Problem zu lösen. Wenn es gelöst ist, werde ich mich um Gefühle kümmern können, verwechsle ich die Reihenfolge, bin ich vielleicht tot.«
In der folgenden Nacht träume ich. Ich weiß, dass ich träume, sehe mir selbst zu.
Mit Noël stehe ich vor der Villa Frick in der Menschenschlange, das ist New York. Im letzten Salon des Rundgangs stehen wir unvermittelt vor seinem Bild. Da hängt er, über einer glänzend lackierten schweren Kommode, Thomas Morus. Etwas erschrecke ich, so groß ist seine Präsenz. Spürt Noël diese Kraft? Sieht er dieses Adlergesicht, diese durchdringenden Augen? Es müsste ungemütlich sein, mit ihm essen zu gehen. Wann ist er milde geworden? Ich höre mich sagen: »Er ist viel mehr: Ein Humanist, ein Pazifist, ein Mensch, der das Gegenbild entworfen hat zu Machiavellis Recht des Stärkeren.« Ich höre Noëls Stimme: »Frau Platen, die tot ist, sagte, ihre Mutter war so, wie du gesagt hast, ein Humanist. Frau Platen hat mir das Leben ihrer Mutter erzählen wollen. Ich weiß nicht mehr, etwas sollte ich nicht vergessen.«
Ich erwache und meine zunächst, das Bild Charlotte Platens in der Villa Frick vor mir zu sehen, wie gemeißelt schaut sie auf mich herab, sieht aus wie Thomas Morus. Geträumt zu haben, da war das Bild des Thomas Morus. Ich denke halb wach vor mich hin: In New York unter Verfolgungswahn zu leiden ist absurd. Die Zeit des Thomas Morus war eine Zeit der Bespitzelungen und Verfolgungen, die Gebildeten verkehrten meist nur in verschlüsselten Botschaften miteinander, zum Beispiel durch die Wortwahl und Wortzahl in Gedichten oder mit kleinen Details in Bildern. Jede Zeit ist eine Zeit der Bespitzelungen und Verfolgungen. Vage erinnere ich mich: Erasmus hat sein ›Lob der Torheit‹ dem Thomas Morus gewidmet. Unklar ist, ob er wegen des Namens des Empfängers in Griechisch überhaupt darauf gekommen ist, Morus der Tor. Auf Lateinisch, der Humanistensprache, heißt Morus die Maulbeere. Ebenso wie die Lilie, die Olive, die Orange war auch die schwarze Maulbeere ein Erkennungszeichen – das der Humanisten vom Oberrhein. Die beiden Holbein, die zwei Amerbach, Erasmus, Reuchlin, sie waren zu schwach, auch das grausame Töten des Thomas Morus konnten sie
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