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Todesformel

Todesformel

Titel: Todesformel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verena Wyss
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nichts geschieht. Falls sie unserer Forderung nicht nachkommen oder jemanden informieren, bezahlen Sie mit dem Leben Ihres Enkels.
    Noël! – Nein, noch nicht erwachen. Für Meret war es keine Frage, was sie zu tun hatte. Als hätte sie ihr Leben lang gewusst, dass genau dieser Tag mit dieser Forderung kommen wird. Sie hat es nicht geschehen lassen. Sie war nicht umsonst zur Härte erzogen; ihre Tabletten lagen in der Wäscheschublade.
    Das war der Moment, in dem sie mir den Zettel schrieb: ›Es ist ein Glück, seine Liebe zu finden, dazu ist das Leben – wenn dies dieses Leben fordern sollte, so ist das wiederum das Glück.‹
    Schon wieder laufen mir Tränen über das Gesicht, doch dann erschrecke ich – es geht um Noël. Sind das jetzt meine Ängste, die mir einen Albtraum vorgaukeln, oder ist es genau so gewesen?
    Ich trage jetzt immer meine kleine flippige Umhängetasche bei mir, darin das eingeschaltete Handy und den neuen leistungsstarken Gasspray.

14
    AUS ALJAS GARTEN: Die Pfingstrose war sowohl in der alten chinesischen Medizin als auch in Europa zur Zeit der griechischen Hochkultur als Heilpflanze bekannt. Hier erhielt sie als schönste der Heilpflanzen ihren Namen vom Namen des Götterarztes Paion – Päonie. Während Mittelalter und Renaissance fehlte sie in keinem Klosterund Bauerngarten. Erst seit der Aufklärung, als sie in den englischen Cottage- und Landschaftsgärten ihren festen Platz erhielt, galt sie zusehends als reine Zierblume. Wegen ihres asiatischen Aussehens wird sie heute oft nicht mehr als alte europäische Kulturpflanze erkannt und als ›fremd‹ aus vielen Gärten verbannt.
    Ihre Wurzel wie ihre Samen wirken krampflösend. Pfingstrosen tut einzig die Morgensonne nicht gut, doch anschlie ßend lieben sie einen vollsonnigen Standort. Sie lassen sich aus ihren Samen züchten.
     
    Ich sitze in meinem Büro hinter meinem Pult und arbeite. Lukas habe ich schon gehen lassen, denn ich achte darauf, dass seine Arbeitszeiten exakt eingehalten werden. Noël kommt von der Schule heim, klopft an der Tür, da er ja nie wissen kann, ob gerade ein Klient hier ist oder ob ich frei bin. Jetzt stürmt er herein, verabreicht mir einen großzügigen Schmatz, erzählt von Kindern, von einer Musikstunde, von einer Geschichte, die sein neuer Lehrer erzählt hat. Seine Augen lachen, seine Wangen werden rot. Er ist gesund und munter, das macht mich froh. Er läuft jetzt gleich nach oben zu Claas, der in unserem Bad den zweiten Anstrich ausführen will. Noël hat sein neues Schreibheft von der Schule mitgebracht, um es Claas zu zeigen, der noch nie ein ›gemaltes Wortgedicht‹ gesehen hat.
    Etwas später gehe ich nach oben in unsere Wohnung. Noël sitzt in seinem Zimmer an seinem Arbeitstisch, malt mit Wasserfarbe wilde, verlaufende Buchstaben auf einen großen Papierbogen, gelb, rot, orange. Er hat kaum Zeit aufzublicken, er malt für Claas ein Gedicht von einem roten Frosch. Wann hat Claas Geburtstag?
    »Claas«, ich lache, »so wie er ist, nach seiner Ausstrahlung, seinen samtenen Augen, er muss ein Skorpion sein. Dann wäre sein Geburtstag noch nicht gleich, doch du kannst ihm das Gedicht schenken, weil er nett ist.« Dass Moshe sich auf Noëls Bett breitmacht und unter meinem Blick andeutungsweise mit der Schwanzspitze wedelt, übersehe ich geflissentlich. Noël bemerkt: »Claas ist schon im Badezimmer und malt.«
    Die Badezimmertür ist verschlossen, ich klopfe. Claas ruft von innen, er steht auf der Bockleiter gleich hinter der Tür. Er hat die Lüftung aufgedreht, wegen der Farbdünste, versteht kaum etwas. Er kann jetzt nicht öffnen. Solange die Tür zu bleibt, wird der Farbgeruch die Wohnung nicht verpesten.
    Weg mit den Stöckelschuhen, der Jacke, der gestreiften Bluse, mit Rock und Strümpfen; Umziehen heißt in jedem Fall Freiheit, Freizeit, Ferien. Der Sonnenstand löst einen Hormonschub nach dem anderen aus. Heute ist das Bad besetzt, also noch keine Dusche. Rasch in den Minirock, ich liebe es, hier oben in der Wohnung ein knappes Shirt unter einem leichten Hemd zu tragen, meine Zehen genießen die Espadrilles.
    So stehe ich im Korridor und will eben ans Bad klopfen, um Claas zu fragen, ob er Durst hat, da höre ich von der Wohnungstür her ein Geräusch, der Chip wird eingesteckt, da ist jemand an der Tür. Die Kombination wird geklickt, das ist gut zu hören. Ich weiß, es ist nicht Knut, denn Knut ist um diese Zeit noch im Büro, Knut klingelt jedes Mal draußen am Gartentor und

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