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Todesformel

Todesformel

Titel: Todesformel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verena Wyss
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dazu, jetzt sind Sven und auch Claas dabei, in meinen Gedanken lebt Meret. Diese Menschen sind mein Leben, meine leibliche Großmutter habe ich nie erlebt.
    Alja hat die Besuchszeiten erfragt, sie hat uns als gute Bekannte aus Hochberg angemeldet.
    Wir gehen über geteerte Rollstuhlwege durch einen großen, gepflegten, italienischen Rosengarten mit Beetrosen, Rosenbüschen und Rosenbäumchen, dazwischen weiße und gelbe Narzissen, eine Pergola ist überwachsen mit früh blühenden gelben Kletterrosen. Die Aussicht ist atemberaubend, wir befinden uns hoch über der dunstig blau-goldenen Weite des Genfersees. Im Dunst schimmert der weiße Gipfel des Mont Blanc, sieht aus wie der blendende Gipfel des Kilimandscharo.
    Jetzt kommt jemand aus einer der Gartentüren des hellgelben Gebäudes, ein weiß-beige gekleideter Pfleger führt eine alte, gebrechliche, winzigdünne Frau sorgfältig am Arm auf die Terrasse. Auf der anderen Seite stützt sie sich auf einen Stock mit silbernem Knauf. Wir gehen ihnen entgegen. Der Pfleger ist strohblond und rotbackig, jung mit lachenden Augen, redet ein singendes Französisch mit östlichem Akzent, ein Pole. Es ist nett, dass Freunde Madame Platen besuchen, jetzt, da ihre Tochter gestorben ist. Diese ist regelmäßig hergekommen. Madame versteht nichts mehr, redet höchstens spanisch in die Luft mit einem Mann, den sie Juanito nennt, sie muss ihn in Peru gekannt haben. Mit der Katze, die sie füttert, redet sie russisch. Der Pfleger setzt sie in einen der Lehnstühle am Steintisch in der Pergola, mit Blickrichtung über den See, legt eine rot-weiß karierte Decke über ihre Knie, er wird sie in einer halben Stunde wieder holen, wir sollen sie nicht allein lassen. Drinnen fänden wir anschließend eine Cafeteria, die auch den Besuchern offenstehe.
    Ich schaue Alja an, Alja schaut mich an. Charlotte Platen blickt uns beide an, schaut wieder weg. Alja begrüßt überdeutlich, redet langsam. Charlotte Platen schaut blicklos, dreht den Kopf etwas, betrachtet einfach den Mont Blanc. Alja hört auf zu reden.
    Ich ziehe meinen Stuhl direkt vor sie, setze mich kerzengerade vor sie hin, versperre zumindest die Aussicht. Ich rede klar, doch nicht zu langsam, deutsch, einzelne Worte sollen hängen bleiben: »Ich weiß nicht, ob Sie verstehen, was ich sage. Aber Ihre Seele tut es, ich habe das gelesen, Sie verstehen, was ich sage. Sie sollen wissen, dass ich Jennifer Bach bin. Ich bin Ihre Enkelin, die Tochter Ihrer Tochter Meret. Erinnern Sie sich? Erinnern Sie sich an Ihre Tochter Meret, Meret?« Sie hält den Kopf schräg, schaut aufmerksam. Jetzt bewegt sie tonlos die Lippen. »Warum musste Ihre Tochter ihr Kind weggeben? Warum haben Sie das zugelassen? Es war für sie ein großes Unglück.« Ich warte, sage wieder: »Ich bin Jennifer Bach, Merets Tochter.« Doch da kommt nichts. Ich sage eindringlich: »Ich habe einen Sohn, Noël Benrath. Sie haben einen Urenkel. Er wird Platen heißen, gefällt Ihnen das, Noël Platen?«
    Jetzt ist sie da. Sie kann sprechen, formt langsam mit den Lippen, sagt leise: »Jennifer Bach, Meret ist tot, Merets Tochter, Jennifer Bach.« Plötzlich strahlt sie spitzbübisch, sagt überdeutlich und erfreut: »Der Vater ist Polizist, he, he.« Von jetzt an lächelt sie vor sich hin, sieht schräg an mir vorbei, als wäre dort der Mont Blanc, bemerkt mich nicht mehr. Sie reagiert nicht auf Aljas Stimme, Aljas Worte, nicht darauf, dass wir beide ihre Hände streicheln, Pergament. Sie ist wieder weg. Noch einmal streichle ich über ihre Schulter, berühre ihre weißen, weichen Haare. Jetzt bemerke ich, dass ich weine, setze mich wieder. Als der Pfleger Charlotte Platen wieder holt, denke ich, dass ich sie vielleicht nie mehr sehen werde. Sie lässt sich folgsam auf die Beine stellen, lässt sich zum Abschied die Hand geben. Ich gebe ihr einen leichten Kuss auf die Wange. Sie sagt leise, als hätte sie es nicht bemerkt. »Au revoir, bon voyage.« Wir schauen ihnen nach, bis sich die Glastür hinter ihnen schließt.
    Alja fährt. Ich schaue geradeaus, immer auf die Fahrbahn. Während der ganzen langen Fahrt sagen wir beide kein Wort, bis wir bei der Mühle ankommen.
    * * *
    Ein heller Sommermorgen in der Stadt, ich fahre auf der Rolltreppe von der Parketage ins Freie hinauf, schnuppere. Nach dem durchdringenden Geruch nach Hyazinthen ziehe ich jetzt die erfrischend feuchte Luft der noch nassen, frisch gewaschenen Trottoirs ein, den Duft von frischen Brötchen und Kaffee, meine

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