Todesformel
nicht verhindern.
Und dann setze ich mich auf in meinem weichen Bett, knipse das Licht an. Ich kann die Augen schließen und sehe intensiv das strenge Gesicht des Thomas Morus vor mir. Ich hab’s, ein Bild als Botschaft, Beeren als Erkennungszeichen, das Bild. Meret Platen hat an Ostern vom Porträt des Thomas Morus in der Frick-Galerie gesprochen, ich soll ihn grüßen. Das Bild der Beeren. Die Beeren enthalten die Botschaft, sind die Botschaft.
Es ist ganz einfach, die kopfstehende Beere trägt eine doppelte Botschaft. Die eine muss im veränderten Muster liegen, die andere ist offensichtlich, Morus auf dem Kopf. Es ist die Utopia des Thomas Morus, die ins Gegenteil verkehrt wurde. Das Gegenteil heißt letztlich Überleben des Stärkeren, kennt keine Ethik und keine Moral. Wer moralisch denkt, ist in der Auseinandersetzung schwach, kommt mit Recht um. Dass Morus deshalb umkam, weil da noch Ethik war? Und Meret?
Wollte Meret Platen mit dem Hinweis auf dieses Porträt von Holbein im Frick-Museum in New York und mit dieser Kopf stehenden Beere bewusst auf Amerika weisen? Sie hat so locker und leicht gesprochen, was hat sie sonst noch gesagt?
Ich schaue auf die Uhr, halb vier. Ich muss noch zwei Stunden schlafen, sonst halte ich morgen nicht durch. Wenn man wüsste, was ihn wirklich dazu gebracht hat, seinem König zu trotzen, durch eine lange Gefangenschaft bis in einen grausamen Tod. Heute politisieren sie mehr denn je mit ihm, Vereinnahmung durch eine Kirche, wo er ganz sicher nicht hingehört, Vereinnahmung durch eine Ideologie, er ist auch nicht nur der Urvater des amerikanischen Imperialismus.
Ich erwache erfrischt, ich habe den Schlüssel gefunden. Ich kontrolliere meinen lindengrünen Schal und weiß ganz genau, was auf Aljas Bild anders ist. Ebenso schlagartig bin ich enttäuscht, wobei mir ebenso schlagartig die Tragweite klar ist. Enttäuscht, denn die CD-ROM, die Kopie aus Aljas Tenne, die ist ja weg. Was nützt ein Schlüssel, wenn du ihn nirgends anlegen kannst? Gleichzeitig denke ich, sie wollte ja gar nicht, dass man die Formel entziffern kann. Was brauche ich einen Schlüssel, so oder so?
Schon an diesem Abend sitzen wir in der Mühle im oberen Zimmer an Aljas Pult. Trotz des warmen Sommerabends hat Alja Haustür, Verandatür und alle Fenster im unteren Stockwerk geschlossen. Hier oben stehen die Fenster sperrweit offen.
Alja in ihren ewiggrünen Shorts legt die Miniaturen vor uns auf das Pult – kleine Kunstwerke. Schon wieder unterdrücke ich die Tränen, hätte ich sie doch gekannt. Da segelt der ›Petit-Duc‹ und hier steht die dritte Maulbeere der zweiten Reihe auf dem Kopf und zeigt ein anderes Innenmuster. Alja holt die Lupe: »Das muss ein Schiebequadrat sein. Wenn man das weiß, ist es nicht allzu schwierig, es aufzulösen.« Sie muss es sich etwas bequemer machen, die Beine auf dem Hocker hochlagern, seit Tagen fühlt sie eine Krampfader in der linken Kniekehle.
Uns fehlt einzig die CD-ROM. Ich streiche mit den Händen über die raue Oberfläche des einen vergoldeten Rahmens, hebe den ›Petit-Duc‹ hoch. Auf der Rückseite das Exlibris mit der Unterschrift ›Meret P.‹. Ich hebe das Beerenbild hoch. Hier steht die Widmung ›Die Maulbeeren der Gartenfrau‹.
Alja nimmt das kleine Eulenbild behutsam in die Hände, dreht und wendet es. Dann guckt sie durch die Lupe. »Da«, sie gibt mir die Lupe. »Schau, da ist es, im Gefieder des Bauchs der Stern!« Es wirkt wie eine geometrische Zeichnung, ein siebenstrahliger Stern in zwei Ringen. »Siehst du die Mitte, das Goldtüpfelchen auf dem Zirkeleinstich?« Ich schaue genau hin. In der Mitte sitzt eines der kleinen Goldtüpfelchen, die Meret Platen auf einzelne Federspitzen gesetzt hat.
»Es ist die Sonnenuhr!« Alja schreit es fast, ich fahre zusammen. Alja redet schnell und hektisch: »Mein Sonnengärtlein, der Stern in den Kreisen, das ist das Muster der Beete um die Sonnenuhr. Mit Felix habe ich dieses Muster wieder frei gelegt, wir unterhielten uns über die sieben Zacken, normalerweise sind die Beetmuster sechs- oder achtzackig, auf eine Achse angelegt. Du wirst lachen, vor Jahren habe ich zwischen Disteln und Beinwell die schönen römischen Zahlen mit Messingputz aufpoliert. Weil ich es sorgfältig tat, fand ich im Steinsockel ein Metallfach, hermetisch dicht, beste Steinmetzkunst. Stell dir vor, diese Entdeckung behielt ich so sehr für mich, dass ich noch nicht wieder daran gedacht habe.«
Eine Zeit lang sitzen wir
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