Todesformel
Realität existieren sie nicht. Sven war blind. Wenn doch diese Daten nun einmal vorhanden sind, kann er doch gerade so gut dort nach dem genetischen Code dieser Hand suchen. Eben nicht bei den Lebenden. Dass er nicht daran gedacht hat!
Unsere Gedanken fliegen: Darf eine Ermittlung auf Daten aus dem Graubereich greifen? Wenn sie in einen Kriminalfall gehören und einem weiterhelfen? Vor Jahren hatten wir diese Fragen erörtert, Prüfungsfragen, für uns absolut theoretisch. Wir hatten ja keine Ahnung, wie eintönig der Juristenalltag später wäre bis zu einer derartigen Frage, die einen jetzt Kopf und Kragen kosten kann, bildlich. Die Integrität, wenn ich es als falsch ansehe, derartige Daten mit oder ohne Wissen von Angestellten zu sammeln, wie kann ich auch nur einen Augenblick daran denken, sie zu nutzen? Leib und Leben. Wenn es um Leib und Leben geht, stehen einige rechtsstaatliche Bedenken hinten an. Gerechtigkeit als Trumpf?
Wenn etwas unsauber ist, ist dies am sofort entstehenden Ärger zu merken. Umgekehrt, weil Sven weiß, dass es unsauber ist, weiß er, dass der Ärger folgen wird. Zumindest die ›Absicht‹ kann er auf amtlichem Papier gleich bei sich tragen, eine Befugnis, sich die Einzeldaten des Archivs anzusehen. Man muss einfach hoffen, bevor der Ärger ausbricht, das Gesuchte gefunden zu haben.
* * *
Ich spüre den Frühling, es geht mir gut. Nach dem Duschen betrachte ich mich im Spiegel und sehe mich als fitnessgeformte, schöne Frau. Soll ich mich darüber freuen oder bin ich deprimiert? Der Schwangerschaftsbauch ist endlich weg. Die Augen sind groß, blau – lachen sie schon ein ganz klein wenig? Ich bürste die Haare probeweise auf die eine, dann auf die andere Seite. Ich könnte einen fachmännischen Schnitt der Spitzen gebrauchen, nicht immer das rasche Herumschnippeln mit der Papierschere nach dem Haarewaschen; ein Besuch beim Friseur kostet mich zwei Stunden meiner Zeit und anschließend fühle ich mich immer etwas deppert, fremd. Ich lächle mir zu, lache. Es ist Frühling. Ich könnte mich etwas verlieben. Fragt sich nur, Sven oder Claas? Solang ich das nicht weiß, lache ich beide an.
4
AUS ALJAS GARTEN: Der Frühling ist nicht mehrkalt mit angenehmen fünfzehn Grad, doch jetzt ist er vor allem nass – ideales Schneckenwetter. Mit Schneckenkörnern vergiftete Schnecken vergiften die Igel und die Vögel, die Pflanzen nehmen Spuren davon auf, nicht nur unser Gemüse, das Gift gerät zu hundert Prozent in den Kreislauf. Schnecken mit der Schere zu zerschneiden ist theoretisch und praktisch widerlich, und Bier, in dem sie ertrinken sollen, zieht immer mehr Schnecken an. Kräuter und Gemüse wachsen vor Schnecken geschützt in ›Bauerngärten‹ : Kleine Wege zwischen den Beeten werden mit spitzem Kies bestreut, die Beete werden zusätzlich mit niedrigen Hecken aus speziell kleinwachsendem Buchs umpflanzt. Gießen Sie die Pflanzen und ganze Beete mit einer Jauche aus Adlerfarn, die Schnecken werden sie meiden.
Donnerstagmorgen. Noël und ich sitzen am Küchentisch beim gemeinsamen Frühstück: Milch, Joghurtmüsli, Orangensaft. Noël hat einigermaßen gut geschlafen, ich war um fünf Uhr mit Moshe Gassi. Wir reden nicht von der Schule, reden über Regen und Schnecken. Dann legt Noël die Hände neben den Teller, es ist wichtig:
»Mam, warum heiße ich Benrath und nicht Bach wie du?« Er schaut mich durchdringend an, vorwurfsvoll. »Esti sagt, ihre Mutter meint, damit wolltest du angeben, Benrath sei ein Stadtbürgername, alle kennten Benno. Das tätest du, damit viele Leute in deine Kanzlei kommen. Du seiest doch bloß die Tochter eines Polizisten.« Esti sitzt in der Schulbank hinter Noël, mit ihrer Mutter habe ich an einem Elternabend geredet, sie führt den Kiosk im Golfclub. Warum erschrecke ich? Ich sollte lachen und ›Blödsinn‹ sagen. Ich sage:
»Es kommt darauf an, wie man es nimmt, ob Esti dich einfach hänseln will. Dein Name ist dein Name, Scheidung hin oder her. Benno wollte, dass du seinen Namen behältst. Im Gesetz ist es so vorgesehen.« Doch jetzt komme ich in Fahrt: »Ich liebe meinen Namen, Bach, nicht nur wegen der Musik, und das mit den Stadtbürgern ist dumm, hörst du. Mir gefällt es, Bürgerin von Feldisberg zu sein. Jeder Mensch hat Freude an seiner Herkunft, das liegt in der Natur. Dass Opa ein guter Polizist ist, darauf war ich immer stolz. Sag Esti, Opa ist tüchtig in seinem Beruf, und er ist Leiter der Verkehrspolizei, weil er klug ist.
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