Todesformel
Schatten. Alja sagt, Meret Platen laufe und laufe.
Der Schulhauskorridor ist voll mit lärmenden, rennenden, einander schubsenden Kindern. Wo ist Noël? Ich sehe Jungen seiner Klasse, entdecke ihn endlich. Ganz allein, scheu und geduckt bewegt er sich die Wand entlang, alles an ihm hängt, Kopf, Schultern, Arme, auch die Säume seiner Hose hängen bis auf die Fliesen. Keines der anderen Kinder schaut sich nach ihm um. Er lächelt erfreut, als er mich sieht. Im ›Jeep‹ schubse ich ihn ermunternd an, streiche ihm rasch über seine feinen Haare.
»Ich weiß, dass es für dich schlimm ist, in die Schule zu gehen. Ich verspreche dir, es wird alles gut, ich helfe dir.« Er schaut gläubig. Jetzt steigen mir nachträglich die Tränen hoch, ich habe ihn so ängstlich gesehen.
›Kindererziehung besteht im Tun‹ – Zitat Dorothy. Noël ist wichtiger als jeder Terminplan. Wir fahren einen Umweg, kaufen im Baumarkt zwanzig kleine Blumentöpfe und einen Karton mit Anpflanzrondellen. Dann fahren wir zu Alja hinaus.
Alja sitzt eine ›Meccarillo‹ rauchend in der Schaukel auf ihrem Sonnendeck, das sie sich vor ein paar Jahren oberhalb des Glashauses hat bauen lassen. Von hier aus hat sie einen freien Blick nach Westen sowie über den oberen Garten zum Wald hinauf. Neben ihr auf dem Kissen liegt der große Feldstecher. Als ich lache, wie viele Eichelhäher und wie viele Elstern sie denn schon gesichtet hätte, reagiert sie zögernd: »Es tut gut, wenn du lachst. Ab und zu fühle ich mich beobachtet, von oben, vom Wald her. Auch wenn ich zum Hof gehe oder ins Dorf radle, fühle ich mitunter dieses Kribbeln am Hinterkopf. Natürlich könnte man mich auch von viel weiter weg sehen, vom südöstlichen Höhenzug her, den ich von hier aus so gern anschaue, doch dazu bräuchte jemand ein starkes Fernglas. Ich bin es ja gewohnt, hier nie ganz allein zu sein, Meret Platen rennt durch die Gegend, steht oft meditierend irgendwo. Es war immer so beruhigend, wenn Felix unvermittelt auftauchte. Fred Roos war auch gelegentlich zu Fuß unterwegs. Es sind nicht nur die Todesfälle, die mich beunruhigen, auch wenn die Häufung den Zufall strapaziert. Es ist, als fühlte ich auf mich gerichtete Augen, etwas Böses. Es könnte jemand anderem als mir gelten, das ist das Unheimliche daran.« Heftig zieht sie an ihrem Stängel, es riecht unverfänglich nach starkem, amerikanischem Tabak. Ich habe ein dreifach ungutes Gefühl: Beobachtet werden ist nicht gut, irgendetwas stimmt nicht hier in der Gegend und Alja verschweigt etwas. Zumindest wäre hier eine erste halbe Erklärung für Aljas seltsames Benehmen.
Oben in ihrem Garten schneidet Alja vom Holunderbusch einen Ast ab, zeigt Noël, wie sich daraus ein Flötchen schnitzen lässt. »Du musst es mit einem Schweizermesser tun, wegen der Klingen: Aus einem glatten geraden Stück Ast das Mark herausschaben, schon kannst du durchblasen. Hörst du den heiseren Ton, noch etwas kurz? Jetzt mit der Ahle ein kleines Loch schräg durchbohren und noch eines, fertig.« Dumpfe Töne, Alja atmet leise hinein, einen Hauch. »Bloß keine Spucke, nur Atem. Hörst du jetzt – so klingt der Ruf einer Rehgeiß.«
Vom großen Buchsbaum unten beim Gartentor schneiden wir kleine, starke Zweige, zwanzig Stück. Auf der Nordseite unseres Hauses am Ring existiert ein Wasserhahn. Dort ist der ideale Standort für unsere Mini-Baumschule. Die Stecklinge müssen täglich gewässert werden, nicht ersäuft. Sobald sie richtig wurzeln, werden sie die direkte Sonne ertragen. Die kleinen Buchse wachsen für unseren zukünftigen Traumgarten. Das gibt Mut. Noël und ich, wir brauchen Mut.
Jetzt, da alles grünt, wirkt unser Vorgarten nackt. Rechts und links des Zugangs ließen sich Blumen pflanzen. Keine Hausverwaltung pflanzt Rosen, wegen der Kosten. Alte englische Rosen müssten es sein, jene, die duften und ewig blühen bis in den November – ich träume mir eine kleine Welt aus Schönheit. Harmonie, Klang, Wohllaut – wenn ich lache, wird Noël froh.
Nachts wache ich, warte, ob Noël weint. Ich bringe ihm einen Schluck Wasser mit Baldriantropfen, er soll ruhig schlafen. Es muss eine Lösung geben. Ich bin unendlich allein.
* * *
Ich telefoniere mit Benno: »Noël braucht Hilfe und dies rasch. Seine Angstzustände müssen aufhören. Es bricht mir das Herz, wenn er selbst erklärt, er könne nicht rechnen. Ja, ich bin wütend. Du musst dir als Erstes bloß die Lehrerin anschauen, wie diese triumphierend
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