Todesformel
Gebäudeversicherung, Katasterschätzung. »Was wollt ihr wissen? Herr und Frau Direktor Mattis und Chantal Platen-Alt wohnen zu einer eher zu niedrigen Miete auf ›Holsten‹, das heißt, sie haben ihre Papiere in der Stadt und sind bedauerlicherweise dort steuerpflichtig. – Hier, das könnte euch interessieren, das finde ich ja interessant: Charlotte Platen hat ein Nutznießungsrecht auf dem gesamten Anwesen, alles gehört Meret Platen. – Natürlich, das war ja ›Delton‹, es gehört ihr von väterlicher Seite, schon als Kind, das müsste hier aus dem Grundbuch ersichtlich sein. Wenn ich es mir überlege, ein Untersuchungskommissar hätte das Recht, dies einzusehen.« Wieder erhält Sven einen treuherzigen Augenaufschlag durch dicke Brillengläser. »Eigentlich ist alles, was Einkommen und Besitz betrifft, nicht einfach so zugänglich. Darum habe ich es vorgelesen, auch weil es um Felix’ Tod geht.« Unvermittelt schluchzt sie los. »Er fehlt mir, jedes Mal, wenn ich aus dem Fenster zur Kirche hinüberschaue, meine ich, er sollte dort in seiner blauen Schürze auf der Kirchentreppe stehen und die Stufen wischen. Er wischte doch immer so exakt.«
Sie schnieft, schon redet sie weich weiter. »Wegen der teuren Bilder wurde auf ›Holsten‹ eine sensible Sicherheitsanlage eingerichtet, eine mit direktem Alarm zum Bezirkspolizeiposten, also ohne Umweg über eine Sicherheitsfirma. Sie wird jährlich einmal getestet. Es wohnt zusätzlich dieses portugiesische Ehepaar oben, Da Silva, auch sie erzielen gemeinsam ein hohes Einkommen, bezahlen ihre Steuern pünktlich. Ihre Ersparnisse gehen nach Portugal. Kontakt zum Dorf pflegen sie nicht, sie kann überhaupt kein Deutsch. Sie betreuen auch das Jagdhaus der Familie Platen in den Vogesen. Dieses fällt unter den Steuerschlüssel des Doppelbesteuerungsabkommens.«
Was weiß Marlies noch, was wir nicht wissen? Im Internet kann die Homepage von Chantal Platen-Alt unter www.chantal-platen-alt.ch/news gelesen werden, politisch und privat; sie oder ihre PR-Agentur spicken sie immer mit Neuigkeiten. Marlies hat auch schon Kochrezepte daraus erprobt, sie sind zweifelhaft, in der Mitte des Vorgangs weißt du nicht, in welcher Schüssel die Eier mit welchen Zutaten verquirlt auf die Weiterverwendung warten, sehr kompliziert. Chantal Platen-Alt glänzt mit witzigen Spontanbemerkungen, sie hat ja keine Kinder. Also lässt sie sich gern mit ihren Hunden fotografieren und macht auch spaßige Bemerkungen über diese Hunde. Das wirkt dort, wo man die Hunde nicht kennt. Sie sind zu scharf, das war schon immer so. Früher waren es Barsois, doch der Rüde hat Katzen gefressen, mitsamt dem Schwanz. Jetzt hält sie sich zwei Picards, struppige Teufel eben.
Von Felix Gamba hat Marlies ja das Wichtigste schon gesagt. Er ist vor sechzig Jahren hier geboren, hier aufgewachsen. Sein Vater war gebürtiger Italiener, der kam während oder nach irgendeinem Krieg hierher, hat eine Hiesige geheiratet. Das Cholerische hatte er wohl von beiden Seiten mitbekommen; er war eher ein Ruhiger. Doch wenn er ein Gläschen Gebranntes getrunken hatte, lachte er viel oder es flogen gleich die Fetzen. Mit dem Pfarrer hatte er einige sehr laute Auseinandersetzungen, es war hier unten im Gemeindehaus zu hören. Ob Felix Feinde hatte? Hier oben zeigt keiner seine Gefühle, die Leute sind verschwiegen. Warum Felix nicht wieder geheiratet hat, weiß niemand.
Wir verabschieden uns. Ich fühle mich leicht. Marlies erinnert mich an meine Tante Lisa, diese Art des leisen, aber exakten Mitlebens in anderer Leute Biografien. Das ist wohl Heimat.
Als Nächstes machen wir einen Blitzbesuch im ›Halbmond‹ auf der anderen Seite des Dorfs. Hier fühle ich mich fast so daheim wie in Knuts Glaswürfel oben am Hang. Uschi freut sich, mich zu sehen, ist offensichtlich neugierig auf Sven Dornbier. Sie schaut mit scharfem Blick, abschätzend, ob zwischen Sven und mir etwas läuft. Dann trinken wir Kaffee. Ich fühle mich warm, wie ich Sven vorschwärme, wie gern ich als Kind damals hier bei Tante Lisa gewesen bin. Später, als Dorothy weg war, habe ich meine Schulaufgaben jeweils an einem kleinen Tisch in der Küche gemacht, bis Knut heimkam.
Uschi schluchzt gleich los, wegen Felix, wegen Fred Roos. Noch vor Ostern haben sie hier an diesem Tisch mit Knut und Uschi ›gejasst‹, jetzt sind sie tot.
»Sie waren ja verschieden, wie Menschen eben sind. Das ›Jassen‹ darfst du nur nicht zu ernst nehmen, sonst regst du
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