Todesformel
›Legasthenie‹ schreit, sie, die so böse ist. Ich weiß jetzt, dass sie die Kinder an den Haaren reißt und ins Gesicht schlägt. Ihr aber ist Noël täglich ausgesetzt.«
Benno hat Noël gegenüber ein schlechtes Gewissen, das Los der Scheidungsväter. Schließlich folgt Benno meiner Argumentationslinie, auf Logik ist er immer ansprechbar. Es mag sogar gut sein, wenn jemand mit einem völlig anderen Blickwinkel die Sache darlegt.
Ein Gespräch mit der Legasthenie-Therapeutin aus der Alternativschule kann vor Noëls erstem Test stattfinden. Benno und ich, wir brauchen Fachauskünfte.
Das Gespräch kann in meiner Kanzlei stattfinden, an meinem Besprechungstisch mit den vielleicht nicht allzu bequemen, doch mit ihren Bogenlehnen fröhlichen Stühlen. Noël kann dabei sein, wenn er will, und wenn es zu langweilig wird, kann er nach oben gehen zu Claas. Pack ich ihn denn in Watte? Als er hört, wir beredeten das, was Frau Grau über ihn sagt, schluchzt er schon wieder los: Benno darf ›das‹ doch nicht wissen, Benno will, dass er in der Schule gut ist, Benno hat gesagt, er sei stolz auf ihn. Noël hört mir zweifelnd zu, dass unser ›gut‹ ein anderes ist als jenes von Frau Grau. Die Frau, die heute kommt, kann es genau erklären. Benno liebt ihn und lässt nicht zu, dass er in der Schule traurig sein muss.
Ich hätte beschworen, Benno werde die Meinung einer Frau, wie sie eben eintrat, in jedem Fall mit mehr oder weniger guten Argumenten ablehnen: Anna Fischer, Natur pur. Ein rosiges rundes Gesicht, helle braune Augen, sehr helle Wimpern und Brauen, offensichtlich ungeschminkt, kein eindeutiger Schnitt der hellbraunen Haare, schafwollenes Gilet, Handgefärbtes darunter, wadenlanger Rock, kurze braune Stricksocken, sogar jetzt bei diesem noch nicht warmen Wetter in Sandalen – aus der Zeit gefallen. Sie redet melodiös. Sie redet von Sprachentwicklung und Denkblockaden, von Prozessen, die im Gehirn abliefen, von der Struktur des Gehirns, von der körperlichen und seelischen Entwicklung zur Zeit des Zahnwechsels. Sie ist erfrischend fachkompetent und Humor hat sie auch. Benno hört aufmerksam zu. Ich werde allmählich froh, werde mir sicher, dass uns diese Frau helfen wird. Das Gespräch dauert zwei Stunden. Die Auskunft ist einfach. Über Jahre weg werden Kinder aus diesem Klassenzimmer therapiert, eins ums andere. Der schulpsychologische Dienst spielt auf der falschen Seite mit, deckt die Lehrerin, verordnet psychologische Abklärungen‹, Tests, Diagnosen, Therapien – für das einzelne Kind. In Therapiestunden würden Noël die durchschnittlichen Gehirnbahnen antrainiert. Er müsste mindestens einmal die Klasse repetieren, es würde zu einem negativen Lernprozess, einer Lehre fürs Leben. Es leuchtet ein: »Ein Kind, das angstfrei aufwächst, hat weder Schlafstörungen noch Schreibblockaden.« Es gehe um das Zusammenspiel beider Gehirnhälften, um das Erüben des äußeren wie des inneren Raums.
Wir sehen einander bloß an, es ist eine Alternative. Bennos Reaktion ist klar und typisch Benno: Gegen eine derartige Schule lässt sich dann nicht viel einwenden, wenn sie garantiert, dass sie ebenso zum Abitur und zur Hochschule führt wie die Staatsschule. Es gibt Webseiten dazu im Internet, wir werden uns orientieren. Heute und in den nächsten Tagen werden wir in Ruhe überlegen, ob Noël sofort die Schule wechseln sollte, ob wir den Druck einfach wegnehmen, heute, diese Woche – so rasch wie möglich muss es sein.
* * *
Sven ruft an: »Schönes Wetter und wir könnten uns wieder vertragen. Du engagierst dich für deine Mandantin. Ich nehme doch an, dass wir beide die Wahrheit wollen. Ich muss Fuß fassen in den ›Höhen‹, muss mich umhören. Wir könnten streckenweise zusammenarbeiten. Konkret, ich wäre froh, wir könnten gemeinsam ein bisschen plaudern gehen. Du bist dort aufgewachsen, weißt, mit wem ich reden muss. Als Gegengleich kriegst du die Auskünfte ebenfalls gleich mit.«
»Du müsstest mir mehr geben. Mich kennen die Leute, vor dir verschließen sie sich. Du müsstest mir erzählen, was genau du bisher über Meret Platen wie über diese grässlichen Todesfälle erfahren hast. Ich muss mein Mandat abschätzen können, ob überhaupt und auf welchem Minenfeld ich mich bewege!« Wieder knüpfe ich bei meinen Idealen an. Das hieße, ich vertraue dir, du vertraust mir. Das haben wir ›Anstand‹ genannt, heute sagt man hochtrabend ›Ethik‹. Ich misstraue denen, die das Wort ›Ethik‹
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