Todesfrauen
Reaktion bestand aus einem herzzerreißenden Schrei. So laut, dass Gabriele den Telefonhörer auf Abstand zu ihrem Ohr bringen musste. Ein Wimmern schloss sich an, gefolgt von stoßartigem Schluchzen.
»Sina, Kleine, schon gut, schon gut«, übte sich Gabriele im Trösten und erntete dafür eine wütende Attacke:
»Gar nichts ist gut! Klaus ist tot! Verstehst du? Tot! Tot!«
»Ja, Kleine, ich war im ersten Moment genauso schockiert. Aber ihr wart nicht mehr zusammen, hattet seit einem Jahr keinen Kontakt …«
»Wie kannst du nur so kalt und unbarmherzig sein? Und warum sagst du mir das alles am Telefon? Hast du Angst, mir dabei in die Augen zu sehen? Fürchtest du, dass du dann selbst deine Tränen nicht mehr zurückhalten kannst?« Sina ließ ihren Gefühlen freien Lauf. »Klaus und ich waren liiert. Über lange Zeit. Ein Liebespaar.« Sie schnäuzte sich. »Ja, wir haben oft gestritten, und zum Schluss fehlte auch das letzte bisschen Vertrauen. Aber das macht die Vergangenheit nicht wett. Wir hatten viele glückliche Wochen, Monate. Wir hatten Spaß, teilten jede Menge gemeinsame Erfahrungen, wir genossen Nähe und Wärme. Vielleicht bedeutet dir all das nichts, was eine Partnerschaft ausmacht, aber mir hat es etwas bedeutet. So eine Erinnerung tilgt man nicht einfach, als wäre nie etwas gewesen.«
»Ich wollte deine Gefühle nicht verletzten«, sagte Gabriele kleinlaut. »Entschuldige bitte.«
Sina, die eher eine sture Reaktion ihrer Freundin erwartet hätte, milderte angesichts dieser Entschuldigung ihren Zorn. »Ja, ist schon okay. Aber, verdammt, wie konnte das passieren? Haben wir nicht schon genug einstecken müssen? Sind wir zeitlebens vom Pech verfolgt? Warum mussten sie Klaus das antun?« Sie wimmerte wieder. »Er war doch einfach nur ein großer, dummer Junge.«
Eine Stunde später saßen sie in Sinas Wohnung zusammen, um über ihre nächste Zukunft zu entscheiden. Sollten sie angesichts der neuesten Entwicklung ihre Pläne über den Haufen werfen oder aber Stärke zeigen und weitermachen wie bisher?
Sina war nicht unvorbereitet. Sie hatte – noch bevor sie die Nachricht von Klaus’ Tod erreicht hatte – einiges Material über den Truppenübungsplatz in Grafenwöhr zusammengestellt. Die Zeitungsberichte und offiziell zugänglichen Daten, die sie in der kurzen Zeit zusammentragen konnte, waren nicht eben umfangreich, dennoch aufschlussreich. Nun holte sie diese Unterlagen hervor und gab ihrer Freundin ihr bisheriges Wissen weiter. So gelang es ihr, den Schock über Klaus’ Tod noch eine Weile zu unterdrücken und sich nicht von den Gefühlen des Schmerzes und der Trauer übermannen zu lassen.
»Das Gelände ist riesig! Viel umfangreicher, als ich es mir vorgestellt hatte. Die ersten Schießübungen fanden dort schon zu Kaiser Wilhelms Zeiten statt.« Sina lieferte der aufmerksam zuhörenden Gabriele einen kurzen Abriss der Entstehungsgeschichte des Militärgeländes im Landkreis Neustadt an der Waldnaab, das sich über ein Gelände von weit über 200 Quadratkilometern erstreckte. Zuvor ein waldreicher und kaum besiedelter Landstrich, ließ das Königshaus Bayern um 1910 einen Schießplatz für die Armee aufbauen, der später von der Wehrmacht großräumig erweitert wurde. Ortschaften wurden aufgelöst, die Einwohner zwangsumgesiedelt. »Viele dieser Dörfer gibt es immer noch«, wusste Sina zu berichten. »In ihnen übten die Soldaten lange Zeit den Häuserkampf.«
»Ja«, sagte Gabriele, »einen dieser Geisterorte am südwestlichen Zipfel des Areals hat Spencer als Treffpunkt ausgewählt: Frankenohe. Dort soll sogar noch ein alter Kirchsturm stehen, habe ich mal gehört.«
»Mag sein. Doch wenn es richtig ist, was meine Quellen hergeben, dann werden wir dieses Frankenohe niemals zu Gesicht bekommen. Der Zutritt zum gesamten Gelände ist strengstens verboten. Die Wachposten dort haben scharfe Munition in ihren Läufen und fackeln nicht lange, wenn sie auf Eindringlinge stoßen.«
Gabriele zeigte ein leichtes Schmunzeln. »Sie werden schon nicht auf uns schießen. Nicht auf zwei wehrlose Frauen.«
»Bist du sicher? Spätestens seit den Anschlägen der RAF auf amerikanische Einrichtungen in Deutschland, an denen ja auch Frauen beteiligt waren, machen die Wachsoldaten keinen Unterschied mehr zwischen Männlein und Weiblein.«
»Mmmh.« Gabriele wirkte nachdenklich, als sie eine Karte aus Sinas Fundus in die Hand nahm. »Wahrhaft ein enorm großes Gelände. Ich kann mir nicht
Weitere Kostenlose Bücher