Todesfrist
iPhone aus der Hand, warf einen Blick auf den Stadtplan und ging zum Park zurück, an dem sie eben vorbeigelaufen waren. In diesem Moment läutete das Gerät. Ben Kohlers Name erschien auf dem Display.
»Gehen Sie schon dran!«, rief Sneijder hinter ihr.
Sie meldete sich.
»Wo sind Sie gerade?«, fragte Kohler.
Sabine blickte über den schmiedeeisernen Zaun, hinter dem sich eine über zwei Meter hohe Heckenreihe befand. »Wir gehen eben am Augarten vorbei.«
»Erst?«
Sie erklärte ihm, dass sie Carls zweites Kellerabteil durchsucht und die Kindergärtnerin Ursula Zehetner gefesselt und ausgehungert auf einer Matratze gefunden hätten; mittlerweile befand sie sich auf dem Weg ins Krankenhaus.
»Ein zweites Kellerabteil?«, fragte Kohler. Vermutlich ging ihm derselbe Gedanke durch den Kopf wie Sabine – dass die Wiener
Kripobeamten die Frau bereits vier Stunden früher hätten finden können, wären sie bei der Hausdurchsuchung gründlicher vorgegangen.
»Gute Arbeit«, sagte er schließlich. »Ursula Zehetner wird …« Er klapperte auf einer Tastatur. »… seit sieben Tagen vermisst. Im Moment habe ich keine Zeit für weitere Erklärungen. Gehen Sie zur Friedensbrücke am Donaukanal. Ein Wagen wird Sie dort in zehn Minuten abholen.«
»Hätten Sie uns nicht gleich einen Wagen schicken können, der uns aufs Revier …«
»Sie fahren nicht zum Revier«, unterbrach Kohler sie. »Der Fahrer bringt Sie zum Marienplatz im ersten Bezirk.«
»Eine Stadtrundfahrt?«, fragte sie und zuckte im selben Moment zusammen. Gewöhnte sie sich da Sneijders zynischen Ton an? Sie durfte nicht länger mit diesem Menschen zusammenarbeiten, sonst würde sie ihre bayerische Naivität verlieren und so werden wie er.
»Keine Rundfahrt.« Kohlers Stimme klang bedrückt. »Nur zur Marienkirche, einem alten Gemäuer in der Innenstadt, das achthundert Jahre auf dem Buckel hat.« Er machte eine Pause. »Ja, ich komme …«, rief er jemand anderem zu, dann wandte er sich wieder an Sabine. »Sneijder hatte leider recht. Unsere Beamten haben in der Gruft eine Frauenleiche entdeckt.«
28
Helen saß auf dem Boden des Therapieraums und starrte auf die rings um sie herum ausgebreiteten Mitschriften von Rose Harmann.
Diese Frau war verrückt! In einer viel zu kurz angelegten Trancesitzung hatte sie Carl Informationen entrissen, zu offensiv danach gebohrt und ihn anschließend ohne Ruhephase aus der Stunde entlassen. Beim Gedanken an diese gewissenlose Frau fiel ihr Frank ein. Die Feier!
Es war 14.00 Uhr. Sie musste noch so vieles organisieren, von dem Frank keine Ahnung hatte. Möglicherweise hatte er schon Dutzende Male versucht, sie am Handy zu erreichen. Doch seine Geburtstagsfeier war ihre geringste Sorge.
Sie starrte auf ihr totes Telefondisplay. Um ihre Mobilbox mit der richtigen Antwort zu besprechen, wusste sie noch zu wenig. Weshalb hatte Carl Boni seine Therapeutin entführt? Ihr blieben noch knapp drei Stunden Zeit. Die Antwort würde sie auf den Kassetten finden. Bevor sie sich Carls Selbstgesprächen widmete, wollte sie die Aufzeichnung der achten und zugleich letzten Therapiesitzung vom März hören. Sie legte das Band ein.
Unwillkürlich biss sich Helen auf die Lippe und ballte die Hand zur Faust. Roses depressiver Unterton war nicht zu überhören. Diesmal klang die Stimme der Therapeutin distanziert, beinahe ängstlich …
29
Zwei Monate vorher
Die 8. Therapiesitzung
Nebel lag über den Feldern, Nieselregen hing in der Luft, und die Sonne versteckte sich hinter den Wolken. An diesem kalten Nachmittag im März hätte Rose sich am liebsten mit einem guten Buch unter der Decke verkrümelt. Allerdings kein Buch über Schwangerschaft, Geburtsvorbereitung oder Kindererziehung. Vor einem Monat hatte sie die gesamte Literatur in eine Schachtel verpackt, zugeschnürt und im verborgensten Winkel ihres Kellers versteckt. Bei der nächsten Rot-Kreuz-Sammlung würde der Karton rausfliegen und für immer aus ihrem Leben verschwinden – ebenso wie jeglicher Gedanke an ihr ungeborenes Baby. Knapp drei Monate war es in ihrem Bauch alt geworden. Drei Monate! Danach waren die starken Krämpfe gekommen, und eine Blutung hatte es aus ihrem Bauch fortgerissen. Sie hatte gespürt, dass es ein Junge gewesen war. Er hatte noch nicht mal seine Augen geöffnet, um das Licht da draußen zu erblicken. Daniel hätte er heißen sollen. Wie der biblische Seher, der in der Löwengrube überlebt hatte. Doch ihr Daniel hatte gerade einmal drei
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