Todesfrist
wieder Albträume?«
»Nein.«
»Welche Gedanken beschäftigen Sie im Moment?«
»Was glauben Sie?«
»Die Frage lautet doch, was Sie glauben?«
Carl massierte seine Augen. Sie waren rot gerändert, als hätte er die letzten Wochen schlecht geschlafen. Außerdem hatte sich sein feiner blonder Dreitagebart zu struppigen Stoppeln entwickelt.
»Sie sind meine Therapeutin«, entgegnete er. »Was glauben Sie?«
»Na gut«, seufzte sie. »Ich denke, dass Sie die Frage beschäftigt, weshalb Ihre Mutter damit drohte, die Familie zu verlassen.«
»Möglich.« Er nickte langsam. »Leider kann ich sie nicht mehr danach fragen.«
Rose setzte sich auf. »Wie bitte?«
»Sie hatte vor zwei Tagen einen Schlaganfall.«
Sie blickte kurz zu dem Stofftier auf dem Tisch. Das dumpfe Gefühl von schlechtem Gewissen breitete sich in ihr aus. »Das tut mir leid. Wie geht es ihr?«
Er zuckte mit den Achseln. »Sie liegt auf der Intensivstation. Im Moment wissen wir nur, dass sie nicht ansprechbar ist und einseitig gelähmt bleiben wird. Falls sie je wieder aus dem Krankenhaus kommt, wird sie ein Pflegefall sein.«
»Ach, das tut mir leid!« Rose sah den Schmerz in Carls Gesicht. Trotzdem sagte ihr Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Log er? »Warum haben Sie mich nicht angerufen? Wir hätten den Termin auf ein andermal verschoben.«
»Was ändert das?« Er erhob sich für einen Moment, streckte die
Beine durch und setzte sich auf die andere Seite der Couch, als wollte er noch mal von vorne beginnen. »Ich bin bereit. Womit wollen Sie mich diesmal überrumpeln?«
»Sie meinen also, ich hätte Sie mit der Trancesitzung reingelegt?«
»Wie würden Sie es bezeichnen? Sie haben mich provoziert und mittels Hypnose Informationen aus mir rausgeholt.«
Trotz seines Ärgers hatte er ihr ein Geschenk mitgebracht. Aber Sie konnte das Stofftier unmöglich annehmen! Das hätte Carls Gefühle noch mehr durcheinandergebracht.
»Es war eine Trance oder Tiefenentspannung«, korrigierte sie ihn. »Aber Sie können es gern Hypnose nennen, wenn Sie möchten. Fakt ist jedoch: Sie selbst haben mir den Anhaltspunkt genannt, Ihren siebten Geburtstag.«
»In meiner Erinnerung war das ein schöner Tag … bisher.«
»Ich habe diese Erinnerung nicht zerstört, sie ist immer noch da. Doch haben Sie ein Erlebnis, das danach geschehen ist, verdrängt. Nun ist es zutage getreten.«
»Ich will, dass diese Erinnerung wieder verschwindet.«
»So, wie sie schon einmal verschwunden ist?«
Er antwortete nicht.
»Sollten wir uns dieses Wissen nicht zunutze machen?«, schlug Rose vor. »Indem wir uns eine Frage stellen?«
»Warum meine Mutter damit drohte, die Familie zu verlassen?«
Rose wog den Kopf hin und her. »Die Antwort darauf kennen wir bereits. Sie drohte Ihrem Vater fortzulaufen, falls ihr Sohn unartig ist. Die Frage, die wir uns stellen sollten, lautet vielmehr: Warum hatte sie solche Angst davor, dass ihr Junge schlimm ist?«
Carl hob die Arme und ließ sie kraftlos sinken. »Das ist doch Blödsinn! Weshalb sollte sie Angst vor mir gehabt haben?«
Rose war an diesem Morgen in der Wiener Magistratsabteilung für Einwanderung, Standesamt und Staatsbürgerschaft gewesen und hatte sich nach der Familie Boni erkundigt. Eigentlich wäre sie nicht an diese Daten herangekommen, doch Richterin Petra
Lugretti, der sie den Klienten Carl Boni zu verdanken hatte, kannte die Abteilungsleiterin. Seit wenigen Stunden glaubte Rose die Antwort auf die Frage zu kennen. Die Schwierigkeit lag jedoch darin, Carl die Antwort selbst finden zu lassen.
»Ihre Mutter hatte keine Angst vor Ihnen, sondern vor einem schlimmen Kind«, korrigierte sie ihn. »Das ist ein Unterschied.«
Er runzelte die Stirn. »Verstehe ich nicht.«
Vor ihr lag ein hartes Stück Arbeit. Rose faltete die Hände und stützte den Kopf darauf. »Besprechen wir zuvor vielleicht ein anderes Thema«, schlug sie vor. »Sie sagten mir bei unserem Einführungsgespräch, Sie hießen Carl Boni und wären ein Einzelkind.«
Er nickte.
Sie zog eine Kopie der Untersuchung von Carls Hausarzt aus der Mappe. Das Formular war aufgrund von Carls e-card und Sozialversicherungsnummer automatisch von einem Computerprogramm ausgefüllt worden. Sie reichte ihm das Blatt. »Werfen Sie einen Blick darauf.«
»Ich kenne den Wisch. Den Papierkram habe ich Ihnen doch selbst gegeben.«
»Werfen Sie einen Blick auf Ihre persönlichen Daten«, forderte sie ihn auf.
»Carl Boni, geboren am 6. November in Wien,
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