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Todesfrist

Todesfrist

Titel: Todesfrist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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Monate Fruchtwasser geatmet. Möglicherweise wäre er Taxifahrer geworden, Journalist oder Mediziner. Vielleicht hätte er geheiratet, wäre selbst Vater geworden und hätte eines Tages mit einer glücklichen Frau Schwangerschaftsbücher gelesen. Sie würde es nie erfahren.
    Am nächsten Tag hatte sie dem Vater des Kindes davon erzählt, und er hatte sie zärtlich in die Arme genommen. Er war fürsorglich
gewesen, dennoch glaubte sie, ein Gefühl der Erleichterung bemerkt zu haben, als wäre ihm eine Zentnerlast von der Seele gefallen. Vielleicht war sie nur paranoid. Zumindest traf es ihn nicht so hart wie sie. Seitdem hatten sie nie wieder darüber gesprochen. Sie las die frühen Texte von Jack Kerouac und Fachliteratur über Traumata und Psychosen und versuchte, jeden Gedanken an das Baby in sich zu ersticken.
    Doch nicht nur das sorgte für ihre Missstimmung. Kürzlich hatte sie herausgefunden, dass Carl Boni sich öfter in der Nähe ihrer Praxis herumtrieb – auch an Tagen, an denen sie keine Sitzung hatten. Warum bloß? Beobachtete er sie? Hatte er ihr kleines Geheimnis herausgefunden? Nahm er ihr die Sache mit der Hypnose – denn das war es natürlich gewesen – krumm? Die Anlage, sich in fremde Leben zu drängen, steckte in ihm wie der Giftstachel im Körper eines Skorpions. Er konnte nicht anders. Er musste sich in die Leben anderer zwängen, um irgendwie an Zuneigung zu gelangen. Aber warum?
    Falls sie nicht auf der Hut war, würde er sich womöglich auch bei ihr zu einem Stalker entwickeln. Entweder gab sie den Fall ab, wie bereits ihre drei Vorgänger, oder sie brachte die Therapie zu einem erfolgreichen Ende. Und zwar rasch! Nicht bloß aus Neugierde oder Ehrgeiz wie anfangs – vielmehr aus Selbstschutz. Je mehr Stunden sie mit zwecklosen Übungen vergeudete, desto tiefer drang er in ihr Leben ein. Gerade zu einem Zeitpunkt, wo sie so verletzlich war und ihr totes Kind sie in eine emotionale Talfahrt nach der anderen riss. Sie musste zum Kern von Carls Problem vordringen – ihn heilen, sofern man einen traumatisierten Menschen überhaupt so kurzfristig heilen konnte. Das hatte sie sich schon bei der letzten Sitzung vorgenommen, aber nicht durchgezogen.
    Diesmal würde sie es tun! Das hatte sie sich geschworen. Dass Carl nachts auf dem Parkplatz um ihren Smart herumschlich, hatte den Ausschlag gegeben. Innerhalb der nächsten fünfzig Minuten würde sich zeigen, wie viel Mumm sie besaß.

    Der Thermostat, der die Temperatur in ihrer Praxis auf einundzwanzig Grad regulierte, war angesprungen. Es gluckste im Heizkörper. Rose trug einen langen, cremefarbenen Rock, eine Bluse und eine Strickweste darüber. Sie saß auf ihrem Stuhl und legte das Tonbandgerät auf den Tisch.
    »Sie sehen anders aus als sonst«, bemerkte Carl. »Geht es Ihnen nicht gut?«
    »Doch, alles bestens«, antwortete sie.
    Alles bestens! Am liebsten hätte sie laut losgeheult. Sie stand am Rande einer Depression.
    Sie schaltete das Tonbandgerät ein. »Freitag, 18. März, 16.00 Uhr. Achte Sitzung mit Carl Boni.«
    Sie machte eine Pause. »Bei unseren letzten beiden Treffen haben Sie Techniken gelernt, mit Ihrer Aggression umzugehen. Wie geht es Ihnen heute?«
    Carl trug Jeans mit Ölflecken, ein Rippshirt und eine dünne Windjacke. Er verzog das Gesicht. »Nicht besonders.«
    »Wollen Sie darüber reden?«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Gut, dann schlage ich vor, dass wir …«
    »Bevor wir anfangen«, unterbrach er sie, »möchte ich Ihnen etwas geben.« Er langte in die Jackentasche.
    Roses Herzschlag beschleunigte sich. Schon seit Wochen hatte sie etwas Ähnliches befürchtet.
    Er stellte einen kleinen, gestreiften Stofftiger auf den Tisch, etwa so groß wie der Pu auf der Armaturenablage ihres Wagens. »Damit Pu sich nicht so einsam fühlt.«
    Sie griff nicht nach dem Tier, woraufhin Carl es näher zu ihr schob. Das Plüschspielzeug für Kinder grinste sie an. Nimm mich! Drück mich! Am liebsten hätte sie auf der Stelle losgeheult.
    »Ich sehe es als Zeichen meiner Wertschätzung. Aber ich werde das Geschenk nicht annehmen.«
    Carl schnappte ungläubig nach Luft. »Ich habe das für Sie gekauft!«

    Sie seufzte. »Denken Sie an die Grenzen, die wir besprochen haben.«
    »Sie lassen sich nicht überreden?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Trotzdem danke für die Geste.«
    Er lehnte sich zurück, und in diesem Moment sah er noch zerschlagener aus als vorher.
    »Sie sagten, dass Sie sich nicht besonders fühlen. Hatten Sie

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