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Todesfrist

Todesfrist

Titel: Todesfrist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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Ethik-Kommission zu hören bekam. Von denen hätte sie jetzt keinen als Beisitzenden in ihrer Praxis haben wollen. Ihre Zulassung als Therapeutin wäre so schnell weg gewesen wie ein Rauchwölkchen bei Windstärke zehn.
    Sie wartete eine Minute, bis Carl wieder normal atmete.
    »Maria hat sich den Anweisungen Ihrer Mutter widersetzt, nicht wahr?«
    »Ich weiß es nicht«, seufzte er.
    »Sie war unartig, ist zum Badeteich gelaufen und ertrunken«, mutmaßte Rose. »Die größte Angst von Eltern ist es, ihr Kind zu verlieren.« Mittlerweile wusste sie das aus eigener Erfahrung. »Diese Furcht kann so mächtig werden, dass sie ihre Kinder lieber in einen Käfig sperren würden, als der Gefahr auszusetzen, verletzt zu werden.«
    Carl wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Ich weiß, was Sie mir damit sagen wollen, aber meine Mutter hatte keine Angst um mich. Im Gegenteil! Es war ihr egal, wenn Vater mich schlug.«
    Rose schüttelte den Kopf. »Ihre Mutter hatte eine Heidenangst um Sie. Ihre Mutter drohte sogar, die Familie zu verlassen, falls
Ihnen etwas zustößt. Jeder geht anders mit seiner Furcht um. Die lähmende Angst, dasselbe Trauma ein zweites Mal zu erleben, trieb sie in die Beziehung mit anderen Männern. Daran konnte nicht einmal Ihr Vater mit einem Neubeginn in einer anderen Stadt etwas ändern. Nicht die Männer in Wien, Köln, Leipzig oder weiß Gott wo waren schuld an der Situation Ihrer Mutter – das Problem steckte in ihr. Sie brachte es in jede neue Stadt mit.«
    »Das widerspricht sich doch alles!«
    »Keineswegs. Ihre Mutter hätte es nicht ertragen, noch ein Kind zu verlieren. Die Angst davor war so groß, dass sie eher die Familie verlassen hätte. Da Ihr Vater Ihre Mutter abgöttisch liebte …«
    »… hat er mich täglich verprügelt?«, fragte Carl zynisch.
    »Damit Sie artig blieben und sich den Anweisungen Ihrer Mutter nicht widersetzten.«
    Im Moment wehrte er sich dagegen, die Zusammenhänge zu begreifen. Viele Sitzungen waren noch notwenig, bis Carl begriff, dass sich seine Zornesausbrüche unbewusst gegen seine tote Schwester richteten, der er die Schuld für die harte Erziehung durch seinen Vater gab. Er hasste Frauen … seine bigotte, scheinheilige Tante, seine Mutter und vor allem seine Schwester. Die Aggressionen waren bisher in zwei Fällen von Körperverletzung gegen junge Frauen kulminiert, denen er nachgestellt hatte. Seine Neigung zum Stalking kam höchstwahrscheinlich durch die Sehnsucht nach Geborgenheit und Anerkennung. Ein schwacher Trost für die Qualen seiner Kindheit.
    »Ich denke, die Wirkung der Tablette hat jetzt nachgelassen«, sagte Rose. »Unsere Zeit ist um, Sie können aber gern noch hier sitzen bleiben.«
    Carl nickte. »Danke, aber ich glaube, ich kann Auto fahren.« Er stand auf. »Und geben Sie mir nie wieder diesen Scheißdreck!« Er griff nach dem Stofftier und stopfte es demonstrativ in die Jackentasche, als wollte er sie mit diesem Liebesentzug bestrafen.
    »In Ordnung, tut mir leid.« Unnötig, mit ihm zu diskutieren, dass er die Tablette gegen ihren Willen eingenommen hatte. Er
brauchte einen Schuldigen für seinen emotionalen Ausbruch – und in diesem Fall übernahm Rose gern die Rolle des Sündenbocks.
    Carl ging zur Tür.
    »Herr Boni, wir sollten nicht zu viel Zeit bis zum nächsten Termin verstreichen lassen.«
    Er blies die Luft aus den Lungen. »Meine Mutter liegt auf der Intensivstation. Ich weiß nicht, ob ich in den nächsten Tagen viel Zeit haben werde.«
    »Verstehe. Wie wäre es kommenden Freitag?«, schlug sie vor.
    »Ich brauche Zeit für meine Mutter. Ich rufe Sie an.«
    »Ja, natürlich.« Rose legte den Terminkalender beiseite. »Es war ziemlich viel für eine Sitzung. Lassen Sie die Informationen ein paar Tage sacken. Ihr Unterbewusstsein übernimmt die Arbeit für Sie.«
    Er nickte und legte die Hand auf die Türklinke.
    Ihre Worte waren nicht einmal gelogen. Der Tod seiner Schwester in einem Badeteich der Wiener Lobau, von dem sie auf der MA 35 erfahren hatte, war zwar nichts Neues für Carl gewesen – aber er hatte es bisher verdrängt. Nun war es hervorgebrochen, und er hatte es, vermutlich zum ersten Mal in seinem Leben, ausgesprochen – auch wenn er darin noch nicht die Ursache seiner Probleme sehen wollte.
    Rose umklammerte die Packung Torrexin in der Westentasche. Der Trick mit dem billigen Placebo ohne jeglichen Wirkstoff hatte funktioniert. Genauso gut hätte sie Carl ein Gummibärchen geben können.
    Sie

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