Todesfrist
hoffte, er würde nie erfahren, dass sie ihn reingelegt hatte.
30
Der Mann von der Wiener Kripo hatte sich ihnen als Oliver Brandstätter vorgestellt, Kohlers Partner. Er brachte Sneijder und Sabine im Streifenwagen zum Marienplatz in der Innenstadt, wo er neben dem Auto des Gerichtsmediziners hielt. Sabine stieg aus und warf einen Blick auf den Pathologieausweis, der in der Windschutzscheibe steckte. Eine gewisse Dr. Irene Nicinsky vom Wiener Allgemeinen Krankenhaus kümmerte sich um die Leiche in der Gruft.
Sneijder verließ den Wagen ebenfalls. »Ich hasse es, recht zu haben. Es ist wie ein Fluch.«
Während Brandstätter einen Koffer der Spurensicherung zu seinen Kollegen trug, ging Sneijder auf die Marienkirche zu. Das Gebäude hatte eine aschgraue verschnörkelte Fassade. Sechs Säulen umgaben den Eingang, auf denen ein spitzförmiges Vordach mit Skulpturen an jeder Ecke thronte. Darüber befand sich ein schlankes, etwa sieben Meter hohes Fenster mit Rundbogen. Der Kirchturm ragte einsam in den Himmel. Nach dem Ziffernblatt der Uhr folgte nur noch das spitz zulaufende Dach, das Sabine an einen Hexenhut mit Kreuz erinnerte.
An beiden Straßenseiten flatterten gelbe Absperrbänder im Wind. Polizisten hatten den Platz abgeriegelt und Umleitungsschilder aufgestellt. Einige Beamte durchwühlten die Mülltonnen der Nachbargebäude. Die Turmglocke schlug soeben zwei Uhr nachmittags. Sabine knurrte der Magen, doch die bevorstehende Tatortbesichtigung ließ sie den Hunger vergessen.
Kohler eilte ihnen entgegen. Obwohl sich dunkle Wolken über der Kirche zusammenbrauten, hatte er seine schwarze Windjacke leger um die Hüften gebunden. Die Sonnenbrille steckte in seinen
kurz geschorenen Haaren. Wie Sneijder trug er die Dienstwaffe im Schulterholster. Durch das schwarze Rippshirt kam sein Bizeps gut zur Geltung. Halb unter dem Stoff ragte ein Tattoo hervor. Sabine war kein Fan von Tätowierungen. Die meisten sahen lächerlich aus oder waren schlecht gemacht.
»Ist Carl bei Bewusstsein?«, fragte Sneijder, noch bevor Kohler etwas sagen konnte.
»Die Ärzte mussten ihn in einen künstlichen Tiefschlaf versetzen.« Kohler erreichte sie. Gemeinsam liefen sie zur Kirche. »Einer meiner Leute ist bei Ursula Zehetner im Krankenhaus. Er hat ihre Identität bestätigt. Unsere Leute prüfen noch, ob sie Carl Boni kannte, wovon wir ausgehen. Carl besuchte den katholischen Kindergarten in der Leystraße, wo sie früher gearbeitet hat. Auch der Zeitrahmen passt.«
Er steckte die Sonnenbrille in den Ausschnitt seines Shirts und strich sich über die kurzen Haare. Da merkte Sabine, dass es sich bei dem Tattoo um einen Greif handelte, das Abzeichen der Wega, des Wiener Einsatzkommandos.
»Ist etwas?«, fragte Kohler.
»Sie waren bei der Wega?«, fragte sie.
»Sie kennen sich mit Spezialeinheiten aus?«, stellte er verwundert fest. »Ist schon lange her.«
»Ich unterbreche nur ungern«, fuhr Sneijder dazwischen. »Aber Sie sagten, diese Kindergärtnerin wird seit sieben Tagen vermisst«, resümierte er. »Ich nehme an, jemand aus Ursula Zehetners Umfeld hatte Kontakt zum Entführer? Fassen Sie sich kurz.« Er hielt drei Finger hoch, während sie zur Kirche liefen. »Das Wichtigste in drei Sätzen!«
Kohler funkelte Sneijder an, als wollte er abschätzen, wie viel er ihnen über diesen Fall erzählen durfte. Schließlich gab er sich einen Ruck. »Zehetners Ehemann erhielt am Tag ihres Verschwindens einen Anruf. Die Botschaft war knapp: Wenn er innerhalb von achtundvierzig Stunden herausfindet, warum seine Frau entführt wurde, bleibt sie am Leben. Wenn nicht – stirbt sie. Er wandte
sich gleich an die Kripo, aber der Entführer hat den Kontakt zu ihm abgebrochen.«
»Normalerweise wäre die Frau längst tot, dennoch ist sie am Leben«, warf Sabine ein.
»Aber gerade das passt ins Schema«, sagte Sneijder. »Er wollte sie verhungern lassen, doch wir sind ihm zuvorgekommen. Welchen Hinweis hat der Entführer Herrn Zehetner gegeben? Los, sagen Sie schon!«
Kohlers Augenbrauen schoben sich zusammen. Sein Blick wurde düster. »Eine alte bemalte Suppenschüssel aus Porzellan. Woher wissen Sie davon?«
»Es ist mein Job, solche Dinge zu wissen.« Sneijder warf Sabine einen flüchtigen Blick zu. »Geschichte Nummer sechs – die Erzählung vom Suppen-Kaspar, der seine Suppe nicht essen wollte und verhungerte.«
Sie erreichten das Kirchentor. Sneijder legte die Hand auf den schweren Messingknauf, doch Kohler versperrte ihm
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