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Todesfrist

Todesfrist

Titel: Todesfrist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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Der Anblick der Augen wirkte entsetzlich. Sabine würgte und blickte zur Seite. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Sneijder jedes Detail studierte, als faszinierte ihn Struwwelpeters abartiger Einfallsreichtum.
    »Die Frau ist seit etwa vierundzwanzig Stunden tot, höchstens dreißig«, erklärte die Gerichtsmedizinerin. »Die feuchte Atmosphäre hier unten beschleunigt den Verfallsprozess.«
    Sneijder trat näher. »Dreißig Stunden? Sind Sie hundertprozentig sicher?«
    Dr. Nicinsky hielt die Taschenlampe immer noch zwischen den Zähnen. Sie senkte den Lichtstrahl in die halb vollen Eimer. »Überzeugen Sie sich selbst, und greifen Sie rein. Der jüngste Kot ist etwa dreißig Stunden alt.«
    »Wir müssen herausfinden, wer die Frau war«, sagte Sneijder.
    »Wissen wir bereits«, mischte sich Kohler ein. Er deutete auf eine zweieinhalb Zentimeter lange Narbe zwischen Unterlippe und Kinn der Leiche, die vermutlich von einer alten Schnittverletzung stammte.
    »Als Sie heute Morgen Ihren Besuch wegen Carl Boni ankündigten, ließ ich mir seine Akte kommen. Seine Mutter wird seit zwei Monaten vermisst.«
    Sabine schluckte. »Ist sie das?«
    Kohler nickte. »Carmen Boni. Wir konnten sie aufgrund der Narbe identifizieren. Außerdem hat sie laut Zahnarztunterlagen links unten eine Brücke.«
    »Yep«, bestätigte die Pathologin. Sie leuchtete mit der Lampe
in den Mund der Toten und schob mit dem Spiegelbesteck die Wange beiseite. »Ausgezeichnete Arbeit, wahrscheinlich aus Ostdeutschland.«
    Soviel Sabine erkannte, war die Mundhöhle mit verkrustetem Blut verklebt. Die Zunge wirkte lose.
    »Sie steckt doch nicht etwa seit zwei Monaten in diesem Betonblock?« , fragte Sabine.
    »Bestimmt sogar.« Wie zum Beweis leuchtete die Pathologin zum anderen Ende des Raumes, wo sich einige Eimer aneinanderreihten. »Für Kot und Urin. Offenbar wurde sie hauptsächlich flüssig ernährt und hat zusätzlich Abführmittel erhalten.« Sie betrachtete Sabines Hand. »Diese Bisswunde sollten Sie schleunigst behandeln lassen.«
    »Ist schon okay.«
    Sneijder warf Kohler einen Blick zu. »Carl Boni ist unser Killer. Jemanden bei lebendigem Leib einzubetonieren entspricht seiner Vorgehensweise«, fuhr er fort. »Aber die Chronologie stimmt nicht mit den Geschichten im Buch überein. Wenn wir davon ausgehen, dass der geplante Hungertod seiner Kindergärtnerin die Geschichte des Suppen-Kaspars darstellen soll und der Mord an seiner Mutter die des Zappel-Philipps, dann fehlt dazwischen eine Story.«
    »Die des Daumenlutschers«, krächzte Sabine. »Die Mutter verbot ihrem Sohn Konrad, Daumen zu lutschen, während sie fort war, sonst würde der Schneider mit der Schere kommen und dem Jungen die Daumen abschneiden, als ob sie aus Papier wären.« Sie dachte einen Moment über die Geschichte nach. »Entweder hat er sein nächstes Opfer bereits mit einer Schere zerteilt, oder er geht nicht chronologisch vor.«
    »Oder er hatte vor, dass wir den Mord an seiner Mutter noch nicht jetzt entdecken, weil er uns ihren Tod erst später präsentieren wollte«, sinnierte Sneijder. »Wie auch immer – der Zeitablauf stimmt nicht …«
    »Ihr jagt einem ganz schön kranken Typen hinterher«, meldete
sich Dr. Nicinsky zu Wort. »Aber in einem Punkt habt ihr unrecht: Streng genommen wurde diese Frau nicht ermordet.«
    »Organversagen?«, vermutete Sneijder. »Ist sie dehydriert?«
    »Sie beging Selbstmord«, lautete Nicinskys lapidare Antwort.
    Sneijder hob eine Augenbraue. »In diesem Block?«
    Sabine dachte an die Blutmengen im Rachen der Frau. »Mir fällt nur eine Möglichkeit ein, wie man das zustande bringt. Sie hat sich in ihrer Verzweiflung mit übermenschlicher Anstrengung die eigene Zunge abgebissen und ist an ihrem Blut erstickt.«
    »Korrekt«, antwortete Nicinsky. »Eine wirklich einfallsreiche Frau.«
    »War Sie Ärztin von Beruf?«, fragte Sneijder.
    »Krankenschwester und Pathologie-Assistentin im AKH«, antwortete Kohler.
    Sie schwiegen einen Moment. Nicinsky knipste die Taschenlampe aus.
    »Warum erst jetzt, nach zwei Monaten?«, murmelte Kohler. »Ich würde keine zwei Tage in diesem Block aushalten, ohne durchzudrehen.«
    Völlig bewegungslos und mit zwei Kathetern im Körper, dachte Sabine. Sie ist bestimmt wahnsinnig geworden. Die Gesichtszüge der Toten lagen im Dunkeln. Sabine blickte auf die starren Augen und versuchte, ihre letzten Gedanken zu erraten. »Die Hoffnung stirbt zuletzt«, flüsterte sie. »Ihr eigener Sohn hat ihr zwei

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