Todesfrist
Monate ihres Lebens gestohlen und wollte sie langsam umbringen. Vermutlich hat er ihr nur einmal täglich zu trinken und noch seltener zu essen gegeben. Die einzige Möglichkeit, ihn loszuwerden und das, was er ihr angetan hat, zu beenden, war der Tod. Für sie gab es keine Alternative.« Sie schloss für einen Moment die Augen. Fast kamen ihr die Tränen. Was für ein Wahnsinn! Warum hatte die Frau nicht noch ein paar Tage durchgehalten?
»Sie sind gut«, lobte Sneijder.
Sabine schüttelte den Gedanken ab. Sie wollte nicht gut darin sein, die kranken Gedankengänge eines Verrückten nachzuvollziehen
– aber sie wollte den Grund erfahren, warum er ihrer Mutter einen Schlauch in den Rachen gesteckt, zwei Liter Tinte eingeflößt und anschließend ein Stück von Bach auf der Orgel vorgespielt hatte, während sie hilflos angekettet um Luft rang und jämmerlich an der Flüssigkeit in ihrer Lunge erstickte. Dabei war Mutters einziger Fehler gewesen, dass sie nach Köln gezogen war und Carl Boni unterrichtet hatte. Warum hatte sich dieser Mistkerl niemand anderen aussuchen können? Den Hauswart, die Putzfrau oder den Turnlehrer? Was für ein Mensch musste Boni sein?
Beim Anblick der toten Frau packte sie maßlose Wut. Hätte Sneijder ihn nicht bereits angeschossen, hätte sie Carl am liebsten selbst durchs Fenster in den Innenhof gestoßen. Liebend gern hätte sie ihm im Krankenhaus die Beatmungsmaske vom Gesicht gerissen und dabei zugesehen, wie er krepierte. Ihre Hände zitterten. Mein Gott, reiß dich zusammen! Sie ballte eine Faust und spürte die Kälte in ihren Knochen.
»Sie sind doch forensischer Psychologe«, murmelte Sabine. »Warum tut dieses kranke Schwein das?«
Sneijder blickte sie traurig an. »Die Wahrheit ist, dass wir es nicht genau wissen.« Er sah zu dem Betonpfeiler. »Möglicherweise weiß Carl Boni noch nicht, dass seine Mutter Selbstmord begangen hat und wir ihre Leiche gefunden haben.«
»Und wenn schon.« Sabine begriff den Gedankengang nicht. Carl lag im künstlichen Tiefschlaf.
»Gehen wir hoch«, schlug Sneijder vor. »Ich habe eine Idee, die aber nur funktioniert, wenn wir rasch handeln.«
31
Während sie die enge Treppe nach oben liefen, redete Sneijder auf Kohler ein. »Um wie viel Uhr ist Redaktionsschluss für die Abendausgabe der Zeitungen?«
Kohler blickte auf die Armbanduhr. »In etwa einer Stunde.«
»Perfekt.« Sneijder nahm zwei Stufen auf einmal. »Carmen Boni war verwitwet. Hatte sie außer ihrem Sohn weitere Angehörige?«
»Soviel ich weiß nicht. Nach dem Tod ihres Mannes hatte sie einen um viele Jahre älteren Lebensgefährten. Ein nicht gerade erfolgreicher Maler. Er starb vor einem halben Jahr.«
»Dass sie alleinstehend war, könnte ein Vorteil für uns sein …«, murmelte Sneijder.
»Was haben Sie vor?«
»Eine proaktive Ermittlungsmethode.«
Kohler verzog unglücklich das Gesicht. »Welche falschen Informationen wollen Sie der Presse zuspielen?«
»Dass Carmen Boni noch lebt.«
»Wozu soll das gut sein?«, entfuhr es Kohler. »Außerdem bringen wir das nie durch.«
Sneijder zog den Kopf ein und schlüpfte durch die Tür, die ins Kirchenschiff führte. »Wir haben Carl Boni zwar in Gewahrsam, aber sehen Sie sich den Tatort an. Der nötige Zeitaufwand und die logistische Organisation, um all das zu ermöglichen. Vielleicht hatte Carl einen Komplizen.«
»Und der läuft noch frei herum und mordet weiter?«, fragte Kohler zynisch. »Ich bitte Sie!«
»Wollen Sie das Risiko eingehen?«
Kohler antwortete nicht.
»Denken Sie daran: Wir haben eine Lücke in der Chronologie der Geschichten. Außerdem entsprechen die Morde nicht der Reihenfolge der Erzählungen in dem Buch. Für meinen Geschmack ist die Sache unrund. Uns fehlen zu viele Details, um das gesamte Bild zu verstehen.«
Sabine sah förmlich, wie Kohlers Gehirnwindungen arbeiteten und er um eine Entscheidung rang.
»Wenn Sie mit der Zeitungsente einen eventuellen Komplizen aus der Reserve locken wollen und hoffen, dass er einen Fehler begeht, könnte das verdammt schiefgehen«, warnte Kohler.
»Carl Bonis Kindergärtnerin ist zwar tatsächlich am Leben, doch zu ihr hatte er schon seit siebzehn Jahren keinen Kontakt mehr.« Sneijder hob die Hand. »Nicht so seine Mutter. Sie war zwei Monate lang in seiner Gewalt. Überlegen Sie: Angenommen, Carmen Boni wäre am Leben und stünde unter psychiatrischer Betreuung, dann könnte sie uns eine Beschreibung seines Komplizen geben.«
»Da ist was
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