Todesfrist
aufregen wollte.
Seit etwa zehn Minuten hörten sie lautes Gebrüll durch die dünnen Wände. Kurz darauf betrat Kohler den Raum. Er wirkte bedrückt.
Er hielt eine Akte in der Hand. »Ich komme gerade …« Wie vom Blitz getroffen blieb er stehen und rümpfte die Nase. »Sind Sie wahnsinnig?« Er lief durch die Kantine und riss das Fenster auf. »Machen Sie das Zeug aus. Sie können in Ihrem Hotelzimmer kiffen, aber nicht auf dem Revier. Verflucht, mein Boss hat mir wegen Ihnen sowieso schon die Hölle heißgemacht!«
Kohler wedelte mit der Akte Frischluft in den Raum. »Wenn der die Abendausgabe der Zeitung in die Finger kriegt, sind wir ohnehin dran.«
Sneijder zerdrückte die Zigarette und blickte müde auf. »Ist das Carls Akte? Darf ich?«
»Nein!«, fuhr Kohler ihn an. Er setzte sich zu Sabine und legte den Arm auf die Mappe. »Mittlerweile wissen wir, dass Ursula Zehetner tatsächlich Carls Kindergärtnerin war. Ich denke, wir sind einen Schritt weiter, aber der Wahnsinn hört nicht auf.«
Sneijder klappte den Laptop zu und drehte sich zu ihnen. »Lassen Sie mich raten. Das fehlende Glied in der Kette.«
»Genau. Carl Boni wurde vor einem halben Jahr wegen Stalkings, Kokainbesitzes und aggressiven Verhaltens gegenüber Frauen zu drei Jahren bedingter Strafe verdonnert. Allerdings hat ihm das Gericht eine Psychotherapie ermöglicht. Seine Therapeutin ist Dr. Rose Harmann.«
»Wir sollten mit ihr reden«, schlug Sabine vor.
Sneijder verzog das Gesicht, als ahnte er bereits mehr.
»Sie wurde vor mehr als achtundvierzig Stunden aus ihrer Wohnung entführt«, sagte Kohler.
»Vervloekt!«, entfuhr es Sneijder. »Dann ist sie wohl nicht mehr am Leben.«
»Möglich. Allerdings hat niemand einen Telefonanruf, ein Rätsel oder ein Geschenk des Entführers erhalten, wie es bei Ursula Zehetner und den Opfern in Deutschland der Fall war …«
»Zumindest ist uns nichts davon bekannt«, präzisierte Sneijder.
Kohler kaute an der Unterlippe.
»Sie wissen doch mehr!«, drängte Sneijder.
Nicht nur das, dachte Sabine. Kohler wirkte, als machte er sich ernsthaft Sorgen.
»Meine ehemalige Lebensgefährtin könnte in den Fall verwickelt sein«, murmelte Kohler gedankenverloren. »Helen Berger, eine Psychotherapeutin. Vor drei Jahren hat sie noch als forensische Kripopsychologin für die Mordgruppe gearbeitet. In den letzten Tagen hat sie mich zweimal wegen Rose Harmann angerufen.«
Sneijder sprang auf. »Und da werden Sie nicht hellhörig?«
»Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nichts von Struwwelpeter«, erwiderte Kohler ebenso laut. Im nächsten Moment beruhigte er sich wieder. »Im Moment ist Helen unsere einzige Spur zu Carls Komplizen, aber ich kann sie nicht erreichen.« Er schlug mit der Hand auf die Akte.
Sneijder legte seinen Laptop in den Hartschalenkoffer und drückte die Schnapper zu. »Statt hier zu sitzen, sollten wir zu Dr. Harmanns Praxis fahren.«
Wieder fuhren sie in Ben Kohlers Wagen durch Wien. Sabine saß hinten. Dr. Harmanns Praxis lag in Siebenhirten, dem südlichsten Stadtteil. Sie mussten quer durch die City, hinein in den Irrsinn aus Autos, Bussen, Taxis und Straßenbahnen.
»Geht das nicht schneller?«, drängte Sneijder.
»Es ist Nachmittagsverkehr«, knurrte Kohler.
»Versuchen Sie, Helen Berger zu erreichen«, schlug Sneij der vor.
»Ihr Handy ist ausgeschaltet.«
»Vielleicht hat sie Ihnen eine SMS geschickt«, drängte Sneijder. »Und Sie erhalten sie nicht, weil die Mobilbox Ihres Steinzeit-Handys randvoll ist.«
»Sie nerven!« Kohler zog sein Handy heraus, das tatsächlich uralt war, und klickte sich durch das Menü.
»Mann, achten Sie auf die Straße!«
»Ja, verflucht, ich mache das nicht zum ersten Mal!« Kohler tippte etwas ins Handy.
Sabine beugte sich zwischen den Sitzen nach vorne und sah, dass er die ältesten Nachrichten löschte. Nach einer Weile erklang der Ton einer eingehenden SMS.
»Meine Nachricht aus dem Flieger«, kommentierte Sneijder trocken.
Das Piepen riss nicht ab. Kohler schien ein gefragter Mann zu sein. »Scheiße!«, entfuhr es ihm. »Eine Nachricht von Helen, heute um kurz vor elf Uhr. Carl Boni hat Rose Harmann entführt!«, las er vor.
Sneijder lächelte gequält. »Die Frau hat mehr auf dem Kasten als Sie.«
Der Rest der Fahrt verlief schweigsam. Eine Dreiviertelstunde später bogen sie in eine Allee ein. So weit vom Stadtzentrum entfernt standen keine Hochhäuser mehr, sondern Einfamilienhäuser mit Vorgärten und hohen
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