Todesfrist
einer Schere oder einer Nagelfeile. Das Knirschen im Schloss ließ sie innehalten. Verdammt, sie hätte die Tür versperren und den Schlüssel stecken lassen sollen! Da sprang die Tür auch schon auf.
Dusty lief knurrend in den Vorraum.
»Hier!«, zischte Helen, doch der Terrier war schon weg.
Mehrere Personen betraten das Haus. Dann erklang eine vertraute Stimme: »Dusty, alter Gauner. Was machst du hier? Wo ist dein Frauchen?«
Ben? Helen atmete erleichtert auf und ließ die Nagelfeile sinken.
»Helen?«, rief Ben. Er stürzte in den Therapieraum, gefolgt von einem groß gewachsenen Mann mit Glatze und bleichen Gesichtszügen. Auch er hielt eine Pistole in der Hand.
»Waffe runter!«, rief Ben seinem Kollegen zu, als er Helen bemerkte. »Alles in Ordnung?«
Helen nickte. »Hast du die Scheibe eingeschlagen?«
»Ein Unfall.« Ben trug eine schwarze Windjacke. Sein Haar war so blond wie früher, nur kürzer. Während er auf sie zukam, durchsuchten der Glatzkopf und eine junge sportliche Frau mit einer silbergrauen Strähne im Haar die anderen Räume der Praxis.
Ben steckte die Waffe ins Holster und deutete auf die Nagelfeile. »Vorsicht, nimm die weg.«
Helen ließ sie ins Waschbecken fallen und ballte die zitternden Finger zur Faust. »Was machst du hier?«
»Du bist ja völlig mit den Nerven runter.« Ben tat einen Schritt auf sie zu. Für einen Augenblick hatte sie den Eindruck, als wollte er sie umarmen, doch er zögerte im letzten Moment. »Ich habe mir Sorgen gemacht. Dein Handy ist ausgeschaltet.«
»Damit ich ungestört und konzentriert arbeiten kann«, log sie.
»An der Frage, weshalb Rose Harmann entführt wurde?«
Sie nickte. Dusty drängte sich zwischen ihre Beine und rieb seine Schnauze an Bens Bein. Plötzlich blickte er knurrend zur Tür.
Der Glatzkopf betrat den Therapieraum, gefolgt von der jungen Frau. Ohne Umschweife kam er auf Helen zu. »Mein Name ist Maarten S. Sneijder vom BKA Wiesbaden. Ich bin Fallanalytiker. Das ist meine Kollegin Sabine Nemez. Wir …« Er trat einen Schritt zurück. »Können Sie den Köter an die Leine nehmen?«
Der Mann sprach mit niederländischem Akzent. Dusty saß zähnefletschend vor ihm, als wollte er ihn jeden Moment anfallen.
»Dusty, aus!«, befahl Helen. Der Terrier verstummte, ließ Sneijder jedoch nicht aus den Augen.
Sabine Nemez nickte Helen kurz zu. Ihre Miene verriet, dass ihr das Verhalten ihres Kollegen peinlich war.
»Ich weiß, Sie haben früher als forensische Kripopsychologin gearbeitet«, sagte Sneijder. »Darum ersparen Sie mir bitte nutzloses Psychogewäsch. Nur die Fakten! Hat der Entführer Kontakt zu Ihnen aufgenommen?«
Was für ein Herzchen! Ein Glück für ihn, dass sie die Nagelfeile aus der Hand gelegt hatte …
»Ja«, murmelte sie.
»Wann zum ersten Mal?«
»Montagmorgen, zwischen acht und neun Uhr früh.«
»Vor sechsundfünfzig Stunden. Dann ist Rose Harmann bereits tot.«
»Ist sie nicht«, widersprach Helen. »Heute Morgen habe ich acht weitere Stunden ausgehandelt. Die Frist läuft in dreißig Minuten ab – um siebzehn Uhr.«
Sneijders Augenbrauen wanderten erstaunt in die Höhe. »Der Killer lässt mit sich handeln?«
»Welcher Killer?« Helen wusste nur von einer Entführung.
Sneijder betrachtete die auf dem Boden verstreuten Dokumente und Tonbandkassetten. »Sie sind zweifelsohne eine intelligente Frau. Schaffen Sie es, die Zusammenhänge innerhalb einer Minute in drei verständlichen Sätzen zusammenzufassen?«
Helen bebte innerlich vor Zorn. Sneijders Kompliment klang wie ein ironischer Seitenhieb. »Und wenn nicht?«, fragte sie.
»… stehlen Sie meine Zeit.« Er hielt ihr drei Finger entgegen. »Drei Sätze!«
Helen hielt Sneijder ebenfalls einen Finger entgegen: den Mittelfinger.
Er nahm es gelassen. »Ich habe mich wohl in Ihnen getäuscht.«
»Ich hoffe, Sie haben eine gute Therapeutin.«
Sabine Nemez trat an ihre Seite und warf ihr einen entschuldigenden und gleichzeitig flehenden Blick zu. »Bitte!«
»Dann sollten Sie mir erst einmal erklären, was hier los ist«, erwiderte Helen. »Ich weiß nichts von einem Killer. Uns bleiben noch dreißig Minuten, um Rose Harmanns Leben zu retten.«
Sabine Nemez wartete nicht auf das Einverständnis ihres Kollegen, sondern begann zu erzählen. »Wir vermuten, dass Carl Boni ein mehrfacher Mörder ist …«
In den nächsten Minuten erfuhr Helen, dass Carl sechs Frauen in Köln, München, Leipzig, Dresden und Wien entführt und fünf davon
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