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Todesfrist

Todesfrist

Titel: Todesfrist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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getötet hatte. Nach jeder Entführung nahm er mit jemandem aus dem Bekanntenkreis des Opfers Kontakt auf, sandte einen Hinweis und ließ achtundvierzig Stunden verstreichen, in denen der Grund für die Entführung gelöst werden sollte – es sei denn, jemand schaltete vorher die Kripo ein. Danach tötete er die Frauen, frei interpretiert nach den Geschichten aus dem Kinderbuch des Struwwelpeters.
    »… und Doktor Harmann ist sein siebtes und bisher letztes Opfer«, beendete Sabine ihren Bericht.
    Der Struwwelpeter! Helen kannte das Bilderbuch. Auf den Tonbändern war es mit keinem Wort erwähnt worden, dennoch musste es die Ursache für die Folter durch den Vater sein. Fünf Morde in so kurzer Zeit! Sie musste das alles erst einmal verarbeiten. Dutzende Fragen kamen ihr gleichzeitig in den Sinn. »Woher nahm Carl die Zeit, all die Morde in nur zwei Monaten zu inszenieren?«
    »Er hat seinen Job als Automechaniker hingeschmissen«, antwortete Sneijder.

    »Und woher kommt das Geld für seinen zweimonatigen Rachefeldzug?«
    Sneijders Miene schien wie versteinert. »Wissen wir nicht.«
    »Diesmal inspiriert ihn die Geschichte des Daumenlutschers«, sagte Helen. »Er trennt Doktor Harmann die Finger ab – vermutlich mit einer stumpfen Gartenschere.«
    Sneijder trat näher. »Erzählen Sie weiter. Alles, was Sie über ihn wissen.« Seine Stimme klang nicht mehr so präpotent wie vorhin.
    Helen sah auf die Armbanduhr. Noch fünfzehn Minuten, bevor die Frist verstrich. Sie setzte sich auf die Couch. Dusty sprang zu ihr hoch.
    »Carls Mutter wurde das erste Mal mit siebzehn schwanger. Fünf Jahre später, am 6. August, verlor sie das Kind. Die kleine Maria widersetzte sich ihren Anweisungen und lief zum Badeteich, wo sie ertrank. Carls Mutter kam nie darüber hinweg. Von Selbstvorwürfen zerfressen, flüchtete sie sich in verschiedene Affären, in der Hoffnung, ihr Mann würde sie verstoßen. Doch das tat er nicht. Sie wurde mit Carl schwanger, hielt die Angst aber nicht aus, auch dieses Kind zu verlieren. Sie drohte, die Familie zu verlassen, worauf der Vater Carl zu absolutem Gehorsam züchtigte. Das Martyrium begann in Wien und setzte sich in den anderen Städten fort.«
    »Aus welchem Grund tötet Carl alle Frauen, zu denen er als Kind und Jugendlicher Kontakt gehabt hatte?«, fragte Ben.
    Nachdem sie die Tonbänder gehört hatte, lag die Antwort auf der Hand. »Stellvertretend für den Hass auf seine Schwester, die er nie kennengelernt hat.«
    »Und warum entführt er seine Therapeutin?«
    Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass Carl Boni nicht bloß drohte, eine Frau zu töten, sondern bereits ein mehrfacher Mörder war. Plötzlich sprudelten die Worte aus ihr heraus. »Um fünf Uhr früh stand er vor meinem Haus, steckte ihren Finger in meinen Briefkasten und verlangte von mir, den Grund dafür herauszufinden«, schluchzte sie. »Er wollte sie umbringen und mir die Verantwortung dafür zuschieben …« Die Einsamkeit hatte sie fast wahnsinnig
gemacht, doch nun löste sich der Druck in ihrer Brust. Endlich konnte sie ihren Kummer mit jemandem teilen und erzählen, was sie in den letzten achtundvierzig Stunden durchgemacht hatte. »Ich wusste nicht, ob ich …« Tränen schossen ihr in die Augen.
    »Schon gut!« Ben setzte sich zu ihr auf die Couch und nahm sie in die Arme.
    Sie spürte seine Wärme, roch seine Haut, sein Rasierwasser. Dieser vertraute Geruch gab ihr jene Sicherheit, die Frank ihr nicht geben konnte. Sie schloss die Augen und ließ sich fallen, weinte an Bens Schulter wie ein Kind. Er ließ es geschehen und strich ihr übers Haar.
    Dusty kletterte an ihr hoch, berührte sie mit den Pfoten, winselte und leckte ihr übers Gesicht. Seine Barthaare kitzelten sie. Schließlich musste sie schmunzeln. »Alles in Ordnung, mein Kleiner.« Sie löste sich aus Bens Umarmung und kraulte Dusty hinterm Ohr.
    Sneijder räusperte sich. Eine blöde Bemerkung von ihm, und sie würde wieder zu heulen beginnen. Doch stattdessen schlug er einen sanften Ton an. »Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen. Soviel wir im Moment wissen, tötet Carl Boni sein Opfer, sobald jemand seine Regeln verletzt und die Polizei informiert.«
    Helen wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Erst jetzt bemerkte sie, dass die Wangen der jungen Kripobeamtin glühten. Auch in ihren Augen sammelten sich Tränen. Mein Gott, sie musste sich zusammenreißen, sonst brachte sie noch jeden in diesem Raum zum Heulen.
    »Ich habe erst jetzt den Grund

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