Todesfrist
fünfzigsten Geburtstag, zu dem rund sechzig Gäste geladen waren. Möglicherweise hatten sich einige zusammengetan, um sie auf die Schippe zu nehmen. Aber warum ausgerechnet sie und nicht Frank? Und warum heute? Oder steckte Frank dahinter? Niemals! Während ihrer zwei Ehejahre hatte er keinerlei Scherze mit ihr getrieben, und für so geschmacklos hielt sie ihn nicht. Also blieb nur eine Schlussfolgerung: Sie telefonierte tatsächlich mit einem Verrückten.
Dusty war wieder in Ordnung, wälzte sich nun selig auf dem Rücken herum. Helen ballte die Faust, in der Hoffnung, den Stress und die Nervosität, die sie von Sekunde zu Sekunde mehr erfassten, durch die Muskelanspannung zu vertreiben. Doch es half nichts. Sie wusste, der Kerl wollte sie in den Wahnsinn treiben.
Mit zittrigen Fingern griff sie zum Handy. »Was …«
»Warum waren Sie weg?«, fragte er.
»Weil mein Hund gekotzt hat! Wollen Sie die Details hören?« Ihre Angst schlug in Wut um.
»Sie machen ab sofort nur noch das, was ich Ihnen sage! Und denken Sie keine Sekunde daran, Ihrem Mann oder der Kripo von unserem Telefonat zu erzählen«, drohte er, »sonst werde ich der Person nicht bloß neun weitere Finger abtrennen, sondern alle Gliedmaßen langsam abschneiden, bis sie verblutet ist. Haben Sie verstanden?«
Helen schwieg.
»Ich habe Sie etwas gefragt!«
»Ja.« Ihr Magen rebellierte. Sie schluckte den säuerlichen Geschmack runter. »Wie geht es der Frau?«
»Der Frau?«, wiederholte er. »Gut beobachtet. Sie meinen, bis auf die Blutung? Sie hält sich tapfer.«
»Braucht sie medizinische Versorgung?«
»Das nehme ich an, aber es geht ihr gut.«
»Ich möchte mit ihr sprechen.«
»Morgen, wenn sie zu Bewusstsein kommt.«
Vermutlich war er in diesem Moment nicht bei ihr. Bestimmt hielt er sie irgendwo in einem Verlies gefangen, gefesselt und geknebelt.
»Warum ich? Warum gerade heute?« Es hatte keinen Sinn mehr, ihrer Stimme einen selbstbewussten Ton zu verleihen. Er wusste, dass er ihren Widerstand gebrochen hatte.
»Warum?«, echote er. »Das sollen Sie herausfinden, Helen. Ihnen bleiben noch knapp achtundvierzig Stunden.«
Unwillkürlich starrte sie auf den mit Schleim verschmierten Rubinring, den Dusty mit den Pfoten über die Fliesen schob. Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass sie diesen Ring schon einmal gesehen hatte.
»Noch ein Hinweis, denn Ihre Frist läuft bereits: Es handelt sich um eine Person, die Sie kennen. Aber dieser Mensch kennt Sie besser, als Sie ihn zu kennen glauben.«
Die Verbindung wurde unterbrochen.
7
Fünf Monate vorher
Das Einführungsgespräch
Dr. Rose Harmann blickte aus dem Fenster ihrer Praxis. Schnee lag auf den Hausdächern Wiens, und die Welt schwieg leise vor sich hin. Dieses Jahr hatte es weiße Weihnachten gegeben, was selten genug vorkam.
Sie schaltete das Diktafon ein. »Dienstag, 28. Dezember. Erste Sitzung mit Carl Boni. Es ist kurz vor fünfzehn Uhr. Ich erwarte ihn jeden Moment. Hoffentlich ist er nicht das, wofür ich ihn halte.«
Sie nahm das Tonbandgerät herunter. Seit sie erfahren hatte, dass sie schwanger war, spürte sie ständig diese eisige, kribbelnde Kälte in den Beinen. Ihr erstes Baby – und das mit vierzig! Ihre Mutter hätte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, doch sie würde es nie erfahren. Der letzte Kontakt lag Jahre zurück. Heuer hatte ihre Mutter nicht einmal auf die obligatorische Weihnachtskarte geantwortet. Sollte sie sich doch zum Teufel scheren. Rose hatte andere Probleme.
Neben dem Parkplatz vor ihrer Praxis türmten sich die Schneehügel. Einer der Nachbarn aus dem angrenzenden Einfamilienhaus hatte den Platz heute Morgen mit einer Schneefräse geräumt, doch über Mittag war wieder etwas Schnee gefallen. Aus den Fenstern der benachbarten Häuser strahlte die Weihnachtsbeleuchtung.
Rose zog den Blazer enger. Carl war für heute der letzte Klient.
Nach der Sitzung würde sie den Rock und die schicke neue Seidenbluse gegen warme Pu-der-Bär-Filzpantoffeln und ihren kuscheligen Flanellpyjama tauschen, der in ihrer Wohnung auf dem Heizkörper hing. Eine heiße Tasse Milch mit Honig und ein paar Kekse würden den Nachmittag perfekt ausklingen lassen. Niemand hatte sie bisher so gesehen – und so sollte es auch bleiben. Eine elegante und eloquente Star-Therapeutin mit Pu-Hausschuhen wirkte lächerlich. Aber im Innersten war sie nicht anders als andere Frauen – auch wenn viele ihrer Klienten sie für einzigartig hielten.
Ein klappriger
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