Todesfrist
weißer Kastenwagen mit dem Emblem einer Autowerkstätte fuhr auf den Parkplatz. Ruben & Söhne prangte auf der Seitenwand. Die Scheiben des Wagens waren außen vereist und innen angelaufen. Nur ein Guckloch war freigekratzt worden, durch das Rose den Fahrer sehen konnte. Er parkte viel zu nahe am Altpapiercontainer, auf dem sich ein Schneehaufen türmte. Ein junger, hochgewachsener Mann stieg aus dem Wagen.
Rose fröstelte bei seinem Anblick. Der verrückte Kerl trug nur Jeans, Hemd und Sakko. Der Wind zerrte an seinen Kleidern und zerzauste sein Haar. Er sperrte den Wagen nicht ab, blickte sich um und lief dann zum Eingang ihrer Praxis. Soweit Rose wusste, war er wegen Kokainbesitzes, Stalkings und auffälligen aggressiven Verhaltens gegenüber Frauen angeklagt worden. Was für eine Floskel! Tatsächlich hatte er zwei Frauen krankenhausreif geschlagen. Der Beschluss des Gerichts lautete: drei Jahre bedingte Strafe. Allerdings hatte ihm die Richterin die Weisung »Therapie statt Strafe« auferlegt. Rose kannte die Richterin. Petra Lugretti war eine ihrer besten Freundinnen. Eigentlich wollte Rose wegen ihrer Schwangerschaft kürzertreten. Außerdem war es immer problematisch, mit Klienten zu arbeiten, die sich nicht freiwillig einer Psychotherapie unterzogen. Doch Rose hatte sich von Petra Lugretti überreden lassen, ein Gerichtsgutachten zu erstellen.
Im nächsten Moment läutete es an der Tür. Rose öffnete. Der Vorplatz lag windgeschützt zwischen zwei Erkern. Trotzdem trieb
der Wind Schnee über die Fußmatte. Ihr Besucher stand vor der Tür und starrte auf das Schild, als wollte er es auswendig lernen:
LOGOTHERAPIE UND EXISTENZANALYSE
NACH VIKTOR E. FRANKL
PRAXIS FÜR PSYCHOTHERAPIE
DR. MED. ROSE HARMANN
APPROB. ÄRZTIN
BACHALLEE 17
Darunter standen ihre Telefonnummer und die Adresse ihrer Webseite.
»Wohnen Sie hier?«, fragte der junge Mann, ohne aufzusehen. »Das Haus ist nur einstöckig, aber« – er spähte an Rose vorbei ins Vorzimmer – »bequem.«
Ein ostdeutscher Akzent schlich sich zu seinem Wiener Dialekt, als könnte er sich nicht entscheiden, ob er Hochdeutsch oder Wienerisch reden sollte. Das hatte Petra bei ihrem Anruf erwähnt.
»Hier ist nur meine Praxis«, erklärte Rose. »Wollen Sie nicht reinkommen?«
Er hob den Kopf, und der Wind wirbelte seine blonden, fast gelben Haare durcheinander. Seine Augenbrauen waren wegen der hellen Farbe kaum zu erkennen, wodurch die blauen Augen noch intensiver wirkten. Und diese unglaublich langen Wimpern … was für ein Blick!
Wortlos trat er ein, hängte das Sakko an den Kleiderständer und fuhr sich durch die feuchten Haare. Er war groß und drahtig. Sein neugieriger Blick schien alles auf einmal einfangen zu wollen.
Manche Klienten reagierten unsicher auf geschlossene Türen. Daher ließ Rose die rechte Tür zu ihrem Büro immer einen Spaltbreit offen, sodass ihre Besucher den Schreibtisch sehen konnten. Die linke Tür führte in den Therapieraum. Ein weihnachtlicher Duft lag in der Luft. Rose ging voraus, doch Carl Boni folgte ihr nicht. Unschlüssig stand er auf der Türmatte.
»Sie können die Schuhe anbehalten«, sagte Rose.
Er lächelte peinlich berührt, als hätte sie seine Gedanken erraten. Dann folgte er ihr.
Der Raum mit den beiden großen Erkerfenstern war von Licht durchflutet. Auf dem Heizkörper standen Kräuterschalen, die einen Duft von Mandarinen und Tannennadeln verströmten.
Rose deutete auf die Sitzecke. »Nehmen Sie Platz, wo Sie wollen.«
Ihre Mappe lag auf jener Seite des Glastisches, wo auch ihr Sessel stand. Gegenüber befand sich die bequeme Eckcouch mit den Sitzkissen. Alle Klienten, die zum ersten Mal zu ihr kamen, nahmen automatisch darauf Platz. Die Mappe wies sie subtil auf die gegenüberliegende Seite, wo Rose sie haben wollte. Carl ebenso. Von dort hatten sie einen wunderbaren Ausblick auf den Park mit den knorrigen Bäumen und schneebedeckten Büschen. Auch sahen sie den kleinen Radiowecker mit der Uhrzeit, der in ihre Richtung wies, damit sie ein Gefühl bekamen, wie lange die Sitzung noch dauern würde. Sonst lag nur eine Packung Taschentücher auf dem Tisch – für alle Fälle. Direkt neben dem Diktafon.
Rose setzte sich auf ihren Stuhl und füllte mit dem Wasserkrug zwei Gläser, die bereits auf dem Tisch standen. Danach schlug sie die Beine übereinander.
Carl saß entspannt auf der Couch. Sein Blick wanderte durch den Raum und verharrte bei einem Bücherregal, das bis auf wenige Romane aus
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