Todesfrist
den Siebzigerjahren nur Fachliteratur beinhaltete.
Rose strich sich das kastanienrote Haar hinters Ohr, das ihr auf einer Seite ständig ins Gesicht fiel. »Stört es Sie, wenn das Diktafon mitläuft?«
Er fixierte sie, als wollte er das dunkle Grün ihrer Augen erforschen. »Weshalb?«
»Es erscheint mir notwendig, die Gespräche aufzuzeichnen.« Sie machte eine Pause. »Wenn ich mir die Bänder später anhöre, habe ich manchmal Geistesblitze, die weiterhelfen könnten.«
Sein Blick blieb skeptisch. »Wer bekommt die Bänder zu hören?«
»Niemand, nicht einmal das Gericht. Ich unterliege der Verschwiegenheitspflicht. Als Klient bleiben Sie anonym.«
Er dachte nach.
Den tatsächlichen Grund für die Aufzeichnung der Sitzungen würde sie ihm vorerst nicht nennen: Der Fall war eine interessante Herausforderung, und sie wollte die Ergebnisse für sich dokumentieren. Vielleicht schrieb sie später einen Artikel darüber.
»Erhalte ich Kopien davon?«, fragte er.
»Falls Sie es wünschen.«
»Nicht nötig.« Er machte eine gleichgültige Handbewegung. »Von mir aus.«
»Fein.« Rose schaltete das Gerät ein und lehnte sich im Stuhl zurück. Die Kassette würde fünfzig Minuten lang laufen. »Wie fühlten Sie sich, als Sie herfuhren?«
Er dachte nicht lange nach. »Gut.« Er lächelte. »Ich habe mich auf dieses Treffen gefreut.«
»Tatsächlich?« Sie wusste, dass er log. Er lächelte nur mit den Lippen, nicht mit den Augen. Ein untrügliches Zeichen der Gesichtsmuskulatur. Blieb die Umgebung der Augen emotionslos, war die Freundlichkeit meist nur gespielt. Etwas Smalltalk würde nicht schaden. »Wie haben Sie Weihnachten verbracht?«
»Allein … Ich bin gern allein«, fügte er rasch hinzu.
»Fühlen Sie sich im Moment wohl?«
»Sicher.« Er lächelte für einen Augenblick, als wollte er mit ihr flirten.
Rose ging nicht darauf ein. »Woran würden Sie merken, dass Sie sich unwohl fühlen?«
Er blickte für einen Moment zur Decke. »Ich beginne, an den Nägeln zu kauen.«
Rose blickte nicht auf seine Hände. Sie hatte bereits bemerkt, dass seine Fingernägel abgebissen waren. Eingetrocknetes Blut klebte an jener Stelle im Nagelbett des Daumens, wo die Haut fehlte. Offensichtlich hatte er während der Autofahrt daran gekaut.
Manche Klienten versuchten, ihre Fingernägel zu verbergen,
indem sie die Hände zu Fäusten ballten, sobald Rose sie darauf ansprach. Vielen war es peinlich, Carl nicht. Seine Hand ruhte gelassen auf der Couch.
»In welchen Situationen kauen Sie noch an den Fingernägeln?«
»Wenn ich nachdenke, unsicher bin und mich nicht entscheiden kann … meistens.«
Eine ehrliche Antwort.
»Gut.« Rose griff zur Mappe. »Dieses Einführungsgespräch ist kostenlos, wird dem Gericht nicht verrechnet und etwa fünfzig Minuten dauern. Wenn Sie damit einverstanden sind, würde ich gern mit ein paar allgemeinen Fragen beginnen.«
Er nickte.
»Sie haben einen ostdeutschen Akzent«, stellte Rose fest. »Stammen Sie aus Sachsen oder Brandenburg?«
»Geboren bin ich in Wien. Meine Mutter ist von hier, mein Vater kam aus Dresden. 1981 ist er während einer Konzertreise aus der DDR geflohen. Er war Pianist. Wir mussten oft umziehen, und so lebten wir eine Zeit lang in Wien, Köln, nach dem Mauerfall in Leipzig und später wieder in Dresden.«
»Interessant.« Rose hatte schon einige Klienten gehabt, die Kinder von Musikern waren, doch noch keinen Sohn von einem Pianisten. »Und jetzt leben Sie wieder in Wien?«
»Nach Vaters Tod sind wir zurückgekehrt … aber Mutter lebt in einer eigenen Wohnung«, fügte er rasch hinzu.
In der nächsten Viertelstunde gab er geduldig zu all ihren Fragen knappe Antworten, die sie in ihrer Mappe notierte. Carl arbeitete von sechs Uhr früh bis zwei Uhr nachmittags als Mechaniker in Rubens Autowerkstatt am nördlichen Stadtrand Wiens, einem – wie er selbst formulierte – etwas zwielichtigen Schuppen. Der alte Ruben verhökerte auch Gebrauchtwagen und legte dabei sogar abgebrühte Kunden aufs Kreuz.
Carl war ein Einzelkind, hatte keine glückliche Kindheit verbracht und lebte allein in Wien. Er war mit der Mutter zerstritten; der Vater, die zentrale Person in seinem Leben, die er abgöttisch
geliebt hatte, war an Herzversagen gestorben. Carl war am 6. November geboren, ebenso wie sie. Auch ein Skorpion. Allerdings war Carl erst dreiundzwanzig und damit deutlich jünger als sie. Theoretisch hätte er sogar ihr Sohn sein können. Unwillkürlich musste
Weitere Kostenlose Bücher