Todesfrist
wanderte ihr Blick über den Tisch und blieb bei der leeren Schachtel mit der roten Filzeinlage hängen, die sie heute Morgen neben dem Briefkasten gefunden hatte.
»Wie heißen Sie?«, fragte sie.
»Das tut nichts zur Sache.«
»Trotzdem weiß ich einiges über Sie«, behauptete Helen.
Er lachte. »Zum Beispiel, Frau Doktor?«
»Ich kenne Ihre Handschrift.«
»Sie haben die Schachtel also schon gefunden.«
Helen glaubte ihn schmunzeln zu hören. Allerdings wusste sie nicht, was er mit dem »Geschenk« bezweckte, denn der Karton war leer gewesen.
»Was glauben Sie noch über mich zu wissen?«
Die Frage klang provozierend. Er wollte sie testen. In jeder anderen Situation hätte sie einfach aufgelegt, doch sie wollte herausfinden, ob seine Behauptung, einen Menschen entführt zu haben, stimmte.
Helen atmete tief durch und bemühte sich um eine ruhige Stimme. »Die Schrift ist nach rechts verschmiert. Sie sind Linkshänder.«
Sein Lachen verstummte.
Ihr fiel ein Zitat von Ben Kohler ein, das er gern verwendet hatte: Je mehr falsche Fährten ein Täter hinterlässt, um seiner Entdeckung zu entgehen, desto mehr Hinweise gibt er. Außerdem ließen sie ihr Psychologiestudium, vierzehn Jahre Therapiepraxis und ihre Tätigkeit als Profilerin jedes auffällige Verhalten automatisch analysieren – und der erste spontane Gedanke war meist der beste.
»Da keine Adresse auf dem Papier steht«, fuhr sie fort, »nehme
ich an, dass Sie Ihr Geschenk persönlich hergebracht haben. Vermutlich heute Nacht, gegen fünf Uhr früh. Mein Hund hat Sie vertrieben, sonst hätten Sie die Schachtel wahrscheinlich vor die Tür gelegt … und nicht in die Zeitungsbox geschoben.« Bestimmt hatte Dusty die Schachtel mit der Pfote aus der Box gezerrt.
Der Mann schwieg.
»Sie verstellen Ihre Stimme. Also würde ich Sie an Ihrer echten Stimme erkennen. Außerdem unterdrücken Sie Ihre Telefonnummer, damit ich der Polizei keinen Hinweis geben kann. Vermutlich sind wir uns schon einmal begegnet. Sind Sie einer meiner Klienten?«
Er schwieg immer noch.
Sie betete zu Gott, dass es sich um einen Scherzbold handelte, der sich gleich zu erkennen geben würde. Denn einen Verrückten, der sich nachts auf ihrem Grundstück herumtrieb, konnte sie genauso wenig brauchen wie einen Stalker oder verstörten Klienten.
»Ich …« Sie brach ab, als sie aus dem Augenwinkel sah, dass Dusty zwischen den niedrigen Smaragdthujen hindurchsprang, die ihr Grundstück von den angrenzenden Feldern trennten. Er hetzte schnurstracks auf sie zu und warf sich unter dem Gartentisch auf den Bauch. Als sie ihn schmatzen hörte, sah sie unter den Tisch und glaubte ihren Augen nicht zu trauen.
Dusty hatte etwas im Maul, an dem er kaute. Schlagartig kam ihr der Gedanke, dass der Verrückte ihren Hund vielleicht vergiften wollte. Sie legte das Handy weg, packte Dusty am Halsband und fuhr ihm mit der Hand ins Maul, um ihm das Ding wegzunehmen.
Schlagartig wurde ihr übel.
Das Ding war länglich, weich und warm. Ein menschlicher Finger! Unmittelbar nach dem Mittelhandknochen am Gelenk abgetrennt. Kein sauberer Schnitt. Haut und Gewebe waren ausgefranst, als hätte jemand mehrere Versuche mit einer stumpfen Gartenschere benötigt, um das Glied von der Hand zu trennen.
Entsetzt warf Helen den Finger auf einen leeren Teller, damit Dusty nicht weiter darauf herumkauen konnte. Sie wischte ihre
Hand an den Jeans ab und schloss die Augen. Ihr war immer noch übel. Nein, das konnte doch alles nicht wahr sein! Ihr Herz schlug bis zum Hals. Es fühlte sich an, als hätte sie einen dicken Knoten in der Kehle. Sie griff zum Orangensaftglas und leerte es in einem Zug – doch der Knoten blieb.
Es war ein Frauenfinger. Nun wusste sie auch, weshalb die Schachtel mit dem roten Filz leer gewesen war. Dusty hatte das Blut gerochen und den Finger aus dem Karton geholt.
Plötzlich begann Dusty zu würgen. Oh Gott, was kam jetzt? Der Hund röchelte und hustete. Sein Brustkorb zuckte. Das kehlige Geräusch klang, als stülpte sich ihm der Magen um.
»Dusty!« Sie kniete sich neben ihn und strich ihm über den Bauch. Im nächsten Augenblick spie er. Klimpernd kullerte ein Ring über die Terrassenfliesen. Trotz der wärmenden Frühlingssonne lief ihr eine Gänsehaut über den Rücken. Helen drehte das mit Schleim überzogene Schmuckstück. Ein Rubin leuchtete matt im Licht.
Bitte, flehte sie. Es musste sich um einen makaberen Scherz handeln. Frank feierte übermorgen seinen
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