Todesfrist
unteren Etage zu hören. Vielleicht beabsichtigte er das, um die anderen beim Denken zu stören. Vermutlich ein Präventivschlag.
»Ich habe gehört, Sie sind Profiler«, stellte sie fest.
Er blickte sie an, mit einem Leichenhallenlächeln, das ihr einen Schauer über den Rücken jagte.
»Wir sind hier nicht bei CSI Miami. Ich bin kein Profiler, sondern polizeilicher Fallanalytiker, Entführungsspezialist und forensischer Kripopsychologe. Haben Sie die Fragestunde jetzt beendet? Darf ich auch ein paar Fragen stellen?« Er wartete ihre Antwort nicht ab. »Erzählen Sie mir von Ihrer Mutter. Wer könnte sie ermordet haben?«
Sabine schluckte. Ihre Mutter war gerade mal fünfzehn Stunden tot. Kein Es tut mir leid oder Mein aufrichtiges Beileid. Nur dieser fixierende Adlerblick.
»Meine Mutter war …«
Er unterbrach sie, indem er ihr drei ausgestreckte Finger vors Gesicht hielt. In der Handbeuge zwischen Zeigefinger und Daumen fiel ihr ein kreisrunder schwarzer Punkt auf. Entweder ein Tattoo oder ein ausgeprägtes Muttermal. »Fassen Sie das Wesentliche zusammen. Das Wichtigste in drei Sätzen, mehr nicht. Schaffen Sie das?«
Arschloch!
»Meine Schwester und ich sind in München aufgewachsen, aber wegen des Jobs meines Vaters zogen wir nach Köln. Früher war er Lokführer gewesen, in Köln restaurierte er Nostalgieeisenbahnen. Das war sein großer Traum. Meine Mutter unterrichtete dort zwölf Jahre lang an der Grundschule und wurde später Direktorin. Nach der Scheidung unserer Eltern vor zehn Jahren kehrten wir nach München zurück. Es folgte ein zweijähriger Rosenkrieg, das ist kein Geheimnis. Vater verdiente gut, doch es ging nicht bloß um Geld, sondern auch um das Sorgerecht. Ich war damals sechzehn. Aber mein Vater würde nie …«
»Das Wesentliche!«, unterbrach er sie.
Was wollte er bloß hören? »Mutter war seit zwei Jahren im Ruhestand. Sie lebte allein, hatte keine Schulden, jede Menge Hobbys und besaß neue Kleider ohne Ende. Sie war schlank, sportlich und sah sich gern Operetten und Theaterstücke an. Einmal pro Woche begleitete ich sie zu einem Pilateskurs. Hören Sie, mein Vater würde…«
»Nein, Sie hören mir zu!« Er trat rasch näher. »Ihr Vater und ein paar andere Verdächtige werden vom LKA verhört. Die interessieren mich so viel, als würde eine Seerobbe im Münchner Zoo einen Darmwind übers Wasser lassen. Mich interessiert Ihre Mutter, klar? Wann findet der Pilateskurs statt?«
»Freitagabend.«
»Diese Woche auch?«
Sie nickte. »Aber ich bin nicht hingegangen.«
Nun hielt er ihr drei Finger der anderen Hand entgegen. Auch hier prangte ein schwarzer Punkt an der gleichen Stelle. Möglicherweise handelte es sich um identische Tattoos. Doch was sollten die Punkte bedeuten?
»Weiter!«, drängte er.
»Sie las Hesse, Böll, antike Sagen, hörte klassische Musik, aber nie die Hörbücher, die ich ihr brachte. Sie ging gern in die Oper, kaufte Obst und Gemüse beim Inder, kochte gern, hatte keine Haustiere und kümmerte sich liebevoll um ihre drei Enkeltöchter.«
Sneijder warf ihr einen überraschten Blick zu.
»Meine Schwester ist geschieden«, erklärte Sabine rasch, bevor er einen blöden Kommentar abgeben konnte.
»Mir ist Ihr Blick aufgefallen«, sagte Sneijder. »Haben Sie Schuldgefühle, weil Sie sich am Abend der Entführung nicht mit Ihrer Mutter getroffen haben?«
Ihr Magen zog sich zusammen. Woher wusste er von der Entführung?
Wie bei einem Ritual drehte er eine Zigarette, die wie ein Joint
wirkte. »Es stört Sie doch nicht, wenn ich rauche?« Nach dieser Feststellung zündete er den Glimmstängel mit einem Streichholz an. »Also, Schuldgefühle?«
»Möglich.«
Im Moment hatte sie jedoch kein schlechtes Gewissen, sondern empfand nur Zorn auf diesen selbstherrlichen Klugscheißer, der so einfühlsam und rücksichtsvoll war wie ein Stein. Andererseits wirkten sein steifer Oberkörper und seine schlaksigen Hüftbewegungen irgendwie schwul. Sie hatte nichts gegen Homosexuelle. Allerdings hatte sie etwas gegen Kiffer.
Sneijder stieß die graue Dunstwolke zur Decke. Sabine bemerkte die weiße kreisrunde Stelle am Plafond – er hatte den Rauchmelder abmontiert. Die losen Kabel waren isoliert, das Gerät lag auf der Fensterbank. Nun konnte sie den süßlichen Geruch zuordnen. Gras! Er rauchte tatsächlich einen Joint. Der Vanilletee sollte wohl den Geruch überdecken.
»Stört Sie der Rauch nicht beim Denken?«, fragte sie spöttisch.
Seine Gesichtszüge
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