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Todesfrist

Todesfrist

Titel: Todesfrist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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dann, wenn wir uns bestimmten Themen nähern – auf professionelle Art und Weise und nicht wie bei einem Kaffeetratsch unter Freunden.«

    Er blickte zu Boden.
    »Ich würde heute gern mit Ihnen über Ihre Kindheit sprechen.«
    Carl sagte nichts. Stattdessen verschränkte er die Arme.
    »Wurden Sie streng erzogen?«, fragte sie.
    »Ich weiß es nicht.«
    »Was wissen Sie nicht?«
    »Was bedeutet schon streng?«
    »Was glauben Sie, sind die Anzeichen für eine strenge Erziehung?« , fragte sie.
    »Ich weiß es nicht.«
    »Wenn Sie die Antwort wüssten, wie würde sie lauten?«
    Er dachte nach. Für einen Moment schien es, als hätte er seinen Groll vergessen. »Nun, ich nehme an, solche Kinder haben vielleicht Blutergüsse im Gesicht oder auf den Unterarmen, blicken zu Boden, sind schweigsam oder zucken zusammen, wenn sie die Stimme des Vaters hören.«
    Rose atmete erleichtert auf. »Was für eine Auswirkung hätte eine strenge Erziehung auf solche Kinder? Wie würde sich ihr Verhalten ändern?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Wenn Sie ein Experte wären und es wüssten, welche Anzeichen könnte es geben?«
    Er löste die verschränkten Arme. Zum ersten Mal seit ihrem Disput blickte er Rose wieder an. »Vielleicht hätten sie Schlafstörungen. Möglicherweise würden sie Bilder malen, würden ins Bett machen oder ihr Essen erbrechen.«
    »Haben Sie jemals Ihr Essen erbrochen?«
    »Können wir über etwas Erfreulicheres reden?« Seine Arme schlossen sich wieder.
    Mist!
    »Natürlich könnten wir über etwas Erfreulicheres reden. An welches Erlebnis Ihrer Kindheit erinnern Sie sich gern?«
    In meiner Kindheit gab es keine erfreulichen Ereignisse, schien sein Blick zu sagen.

    »Reden wir über Ihre Kindheit«, schlug er vor. »Warum haben Sie sich dafür entschieden, Psychotherapeutin zu werden? Was war Ihr Problem, das Sie damit zu lösen versuchten?«
    »Wir unterhalten uns über Sie, nicht über mich.«
    Er ignorierte ihre Antwort. »Was war Ihr Knackpunkt?«
    Rose hatte keine Scheu davor, mit Fremden über ihre Probleme zu reden – vor allem die mit ihrer Mutter. In über dreihundert Stunden Selbsterfahrung hatte sie nichts anderes getan. Noch heute besprach sie ihre Ängste und Probleme mit ihrem Supervisor – aber nicht mit Klienten.
    »Sie haben recht. Es gab einen Knackpunkt in meinem Leben – wie im Leben fast aller meiner Kollegen und Kolleginnen. Warum sollten wir uns sonst für Psychologie interessieren? Doch ist hier und jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber zu sprechen.«
    »Warum?«
    »Es würde Sie zu sehr von Ihnen ablenken, und ich möchte vermeiden, dass Sie damit beginnen, Probleme anderer zu analysieren, statt sich mit Lösungen für Ihre zu beschäftigen.«
    Carl fixierte sie mit seinen intensiven blauen Augen, als wollte er abschätzen, wie sie auf seine nächsten Sätze reagieren würde. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag.«
    Rose lehnte sich zurück. Nun würde der Psychokrieg beginnen. Exakt in der vierten Stunde. Sie hatte sich schon gefragt, wann und wie er loslegen würde. Sie nickte auffordernd.
    »Ich bin nicht hier, um über meine Kindheit zu reden, sondern um meine Aggressionen und mein Drogenproblem in den Griff zu bekommen. Mein Vorschlag: Ich erzähle Ihnen, was Sie wissen wollen, wenn Sie mir etwas aus Ihrem Privatleben preisgeben.«
    Das war also der Grund, weshalb ihre Vorgänger den Fall abgegeben hatten. Carl war raffiniert. Er hatte sich ihnen zu sehr genähert, sie möglicherweise sogar gestalkt. Vielleicht konnten sie mit dieser Situation nicht umgehen und hatten Angst bekommen. In Fachkreisen wurde Carls ruhiges und scheinbar liebenswertes und interessiertes Verhalten als »passiv aggressiv« bezeichnet. In dieser
Situation genügte ein Gespräch mit dem Supervisor, der ihr raten würde, den Fall sofort abzugeben. Rose hatte im Lauf ihrer Karriere viele Therapeuten ausbrennen sehen, bis sie sich schließlich ganz zurückzogen. Doch sie war zu erfahren, um sich auf dieses gefährliche Quid-pro-quo-Spiel einzulassen. Je mehr Carl über sie erfuhr, umso mehr würde er es gegen sie verwenden.
    »Hätten wir uns unter anderen Umständen kennengelernt, würde ich gern mit Ihnen auf privater Ebene plaudern, doch nicht während unserer Sitzungen«, antwortete sie. »Wir sollten uns auf Ihre Gefühle konzentrieren.«
    »Meine Gefühle gegen Ihre Gefühle – so lautet mein Vorschlag.« Carl blickte aus dem Fenster, als ginge ihn das alles nichts an.
    Sie hatte ihn

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