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Todesfrist

Todesfrist

Titel: Todesfrist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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verloren. »Ich möchte Ihnen eine Assoziationsübung vorschlagen. Ich nenne Ihnen …«
    »Nein.« Er blickte immer noch aus dem Fenster. »Ich sagte Ihnen schon, dass ich nur dann etwas erzähle, wenn Sie mir etwas erzählen.«
    »Gut.« Rose blieb ruhig. Bloßes Reden hatte in dieser Situation keinen Sinn mehr. Sie musste visuelle Reize ins Spiel bringen. Also stand sie auf, ging zur Flipchart und teilte das weiße Blatt mit einem Filzstift in zwei Hälften.
    »Wir könnten den Moment nutzen, um Ihre Gefühle in diesem Augenblick grafisch darzustellen. Links ist Ihre Wohlfühlecke und rechts das sogenannte Niemandsland. Welche Bilder kommen Ihnen spontan in den Sinn, wenn Sie sich …«
    »Gar keine.«
    Rose stöpselte den Filzstift zu und ging zum Bücherbord an der gegenüberliegenden Wand, wo sich einige Plastikfiguren befanden. Asterix, Idefix, Micky Maus, eine Prinzessin, eine Hexe, ein Schaf und der Sensenmann mit schwarzer Kutte.
    »Oder wir stellen Ihre Gefühle auf dem Tisch als innere Bühne dar. Welche dieser Figuren könnten Ihren Zorn, Ihre Wut symbolisieren? Welche stünde für Liebe, Leidenschaft, Angst oder Selbstverliebtheit?«

    Carl warf einen Blick auf die Figuren. »Das ist doch Quatsch. Ich bin keine Fünfjährige, die mit Puppen spielt.«
    »Richtig, mit Erwachsenen funktioniert dieses Spiel auch anders …« Sie beendete den Satz nicht und stellte die Prinzessin zurück ins Regal.
    Er blickte sie an. »Und wie?«
    Sie ließ sich mit der Antwort etwas Zeit. »Es nennt sich Externalisieren. Wir einigen uns auf eine imaginäre Figur, beispielsweise Ihre Aggression, und geben ihr eine Gestalt. Viele Klienten verwenden häufig den Teufel, einen Zwerg oder den Sensenmann.« Rose nahm einen freien Stuhl und schob ihn zum Tisch. »Wir laden diese Person ein, sich zu uns zu setzen, und interviewen sie.«
    Carl schielte auf den freien Stuhl. »Was würden wir fragen?«
    »Warum die Aggression beispielsweise so oft zu Ihnen kommt. In welcher Situation? Wann sie wieder verschwindet.«
    »Was würden wir noch fragen?«
    »Das Interview lässt sich nicht planen. Viele Fragen entstehen spontan.« Rose nahm Platz. »Wie würde Ihre Aggression aussehen? Wie der Tod?«
    »Wie eine weiße Taube.«
    Im ersten Moment dachte Rose, er wollte sie veräppeln, doch an seinem Gesichtsausdruck merkte sie, dass er es ernst meinte.
    Eine weiße Taube war ein schöner, ästhetischer Vogel – zumindest in ihren Augen. Auf eine gewisse Weise ruhig, friedlich und … vielleicht sogar heilig.
    »Laden wir die Taube ein, sich zu uns zu setzen.«
    Er dachte eine Weile nach, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, das ist doch Quatsch.«
    Rose blickte auf die Uhr. Die Stunde war beinahe um, und sie hatte nichts erreicht, außer dass sie seine verbalen Annäherungsversuche abgewehrt hatte. Doch wenigstens eine Sache hatte sie herausgefunden: In seinen Augen war die Aggression eine weiße Taube – ein weiblicher Vogel.
    Bestimmt wollte er nicht deshalb auf ein Assoziationsspiel, eine
visuelle Flipchartübung, die innere Bühne oder das Externalisieren einsteigen, weil es ihm zu kindisch war, sondern weil er genau wusste, worauf diese Methoden abzielten: mehr über seine Kindheit preiszugeben. Sicher war es ihm peinlich, mit ihr darüber zu reden oder etwas Neues über sich zu erfahren.
    Nun blickte auch Carl auf die Uhr. »Machen wir nächstes Mal weiter?«
    »Natürlich, wir haben noch viel Arbeit vor uns. Aber zum Abschluss habe ich eine Bitte an Sie.«
    »Soll ich zur nächsten Sitzung meine eigenen Figuren mitnehmen?« Seine Frage klang sarkastisch.
    »Nicht notwendig. Ich möchte Sie etwas anderes fragen.«
    Ihrer Meinung nach blockierte Carl die Therapie deshalb, weil er sich in einem Vier-Augen-Gespräch gehemmt fühlte, über seine Kindheit zu reden. Aber es gab eine Möglichkeit, diese Sperre zu umgehen.
    Rose erhob sich, nahm aus einer Schublade ihr zweites, älteres Diktafon und legte neue Batterien und eine Fünfzig-Minuten-Kassette ein.
    »Ich möchte Ihnen dieses Tonbandgerät mit nach Hause geben. In einer stillen Minute, wenn Sie allein und ungestört sind und Ihnen danach ist, können Sie Ihre Gefühle daraufsprechen.«
    Carl nahm das Gerät. »Und was passiert mit der Kassette?«
    »Wenn Sie wollen, werfen Sie das Band in meinen Briefkasten. Nur ich werde es hören, niemand sonst.«
    »Trotzdem glaube ich nicht, dass ich etwas daraufsprechen werde.«
    »Sie müssen nicht.«
    »Okay.« Langsam ließ er das

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