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Todesfrist

Todesfrist

Titel: Todesfrist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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Ihnen?«
    »Gut, danke.« Carl lehnte sich in der Couch zurück, stützte den Kopf auf die Hand und roch an den Fingern. »Ich habe das Attest meines Hausarztes mitgebracht – ich bin clean, falls Sie das interessiert.« Er beugte sich vor und reichte ihr das Ergebnis der ärztlichen Untersuchung.

    Sie hatten einen kritischen Moment erreicht. An dieser Stelle hatten ihre drei Vorgänger die Therapie abgebrochen, und Rose musste sich entscheiden, ob sie mit Carl weitermachen wollte oder nicht. Würde er an diesem Nachmittag zum ersten Mal versuchen, sie herauszufordern?
    Er strich sich über das Stoppelkinn. Der blonde Dreitagebart war nur aus der Nähe zu erkennen und ließ ihn etwas älter erscheinen.
    Während sie das Formular in ihre Mappe legte, bemerkte sie, dass er aus dem Augenwinkel ihren kurzen Rock fixierte. Ungeniert gaffte er auf ihre Knie, die Waden und die Riemenstöckelschuhe. Die Absätze waren gerade Mal vier Zentimeter hoch – für Carl offensichtlich hoch genug, um sie anzustarren. Dann blickte er auf die Rundungen ihres engen Sweatshirts. In diesem Moment waren seine Gedanken wie ein offenes Buch. Doch selbst wenn Rose ihm in einem Kartoffelsack gegenübersäße, würde das nicht viel an der Situation ändern. Es war immer problematisch, wenn ein Klient zu ihr kam, der sich nicht freiwillig für eine Therapie entschieden hatte. In den nüchternen Räumen eines öffentlichen Psychotherapie-Zentrums in der Wiener Innenstadt wäre ihr das egal gewesen, doch die Praxis lag am Stadtrand in der Nähe ihrer Wohnung – und seine unmissverständlichen Blicke ließen sie frösteln. Zwar musste er erst einmal ihre Privatadresse herausfinden, doch bestimmt stellte das für jemanden wie Carl kein Problem dar. Immerhin war er vom Gericht unter anderem wegen Stalkings verurteilt worden. Von Sitzung zu Sitzung bemühte er sich mehr, einen tieferen Einblick in ihre Privatsphäre zu erhaschen. Seit zwei Wochen interessierte er sich für ihren Wagen und die Fotos im Vorraum.
    Konzentrier dich auf den Fall deines Klienten!
    Rose atmete tief durch und begann das Gespräch mit einer Zusammenfassung der letzten drei Sitzungen. Sie sprach über sein einstiges Drogenproblem, sein aggressives Verhalten gegenüber Frauen und ging dann dazu über, wie sie seine Art und sein Verhalten einschätzte.

    »Bisher wirken Sie auf mich wie jemand, der offen und geradlinig durchs Leben geht und nur dann Aggressionen in sich spürt, wenn er auf menschliche Fassaden stößt – wenn jemand vorgibt, etwas zu sein, was er nicht ist, oder eine Situation darstellt, die nicht zutrifft. Sei es Ihre Mutter, die ständig vortäuscht, sparen zu müssen, obwohl sie finanziell abgesichert ist, oder Ihre Tante in Dresden, die einen tiefreligiösen Glauben heuchelt, obwohl sie zwei uneheliche Babys abgetrieben hat.«
    Carl nickte. Offensichtlich sah er sich selbst ebenfalls so.
    »Weiter wirken Sie auf mich wie jemand, der keine unerledigten Dinge aus seiner Vergangenheit mit sich herumschleppen möchte. Ich denke da an das Gespräch mit Ihrem Vater kurz vor seinem Tod, wovon Sie mir das letzte Mal erzählt haben, das nicht zu Ende geführt werden konnte.«
    Was immer Herr Boni seinem Sohn vor drei Jahren, am Tag seines Herzversagens, am Sterbebett sagen wollte, würden sie vermutlich nie erfahren.
    »Außerdem haben wir herausgefunden, dass Sie eine tragische Kindheit durchlebt haben.«
    »Wir mussten oft umziehen«, antwortete Carl. »Von Wien nach Köln, Leipzig und Dresden.«
    Auch das stimmte, allerdings hatte Rose etwas anderes gemeint. Dennoch wollte sie kurz bei diesem Thema bleiben. »Wegen des Berufs Ihres Vater, nicht wahr? Er war Pianist.«
    »Ja, aber kein gewöhnlicher«, korrigierte Carl. »Vater war Dom-Organist, ein seltener Beruf. Er spielte während der Messen die Orgel.«
    Rose hob eine Augenbraue. »Interessant … Aber als ich eben von Ihrer Kindheit sprach, meinte ich etwas anderes. Die Verbrennungen an Ihrem Arm.«
    Carls Miene erstarrte. Dieses Thema schien für Rose der Knackpunkt zu sein. Sie sollte nachhaken und Carl dazu bringen, sich dem Konflikt zu stellen und seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Doch er mied diesen Punkt wie ein Steuermann das gefährliche
Riff in Küstennähe. Ein weiteres Indiz dafür, dass ihr Bauchgefühl zutraf.
    Es wurde Zeit, eine vorläufige Diagnose für das Gerichtsgutachten abzugeben. Wie immer würde sie das mit dem Klienten besprechen. Sie holte das ICD -10-Formular aus der

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