Todesfrist
»Ich fühle mich zu Ihnen hingezogen.«
Die Situation wurde heikel. Rose dachte an Carls Verurteilung wegen Stalkings. Er versuchte diese Masche nicht zum ersten Mal. Falls es ihm tatsächlich gelang, in ihr Privatleben einzudringen, war sie auf sich allein gestellt – in dieser Hinsicht konnte sie sich auf den Vater ihres Kindes nicht verlassen. Außerdem musste sie verdammt aufpassen, dass keiner der beiden hinter ihr kleines Geheimnis kam.
»Im Moment sind wir zwar nicht mehr beim Thema, sondern bei unserer Beziehung – aber lassen Sie uns trotzdem kurz darüber reden«, schlug Rose vor. »Angenommen ich gefalle Ihnen, aber ich kann Ihre Erwartungen nicht erfüllen … sind Sie dann enttäuscht?«
Er dachte nach, gab jedoch keine Antwort.
Sie ließ ihm Zeit. Als er nichts sagte, formulierte sie die Frage anders. »Würden Sie aggressiv reagieren, falls ich Ihre Erwartungen
nicht erfüllen könnte? Würde das unsere Therapie gefährden?«
Er blähte die Wangen. »Nein, vermutlich nicht.«
»Schön.« Sie lächelte. »Ich würde heute gern mit Ihnen über Ihre Kindheit sprechen.«
»Ich habe gesehen, dass draußen ein metallic-grüner Smart steht. Ihr Wagen, nicht wahr? Klein, aber fein. Passt zu Ihnen. Auf der Armaturenablage sitzt ein Stofftier … ein Pu-Bär. Mögen Sie Bären?«
»Mögen Sie Bären?«, entgegnete sie.
Er reagierte nicht.
Rose dachte an den Glücksbringer mit dem bedruckten T-Shirt. Bleib cool! Ihre Freundin hatte ihr das Tier zum vierzigsten Geburtstag geschenkt. Petra Lugretti arbeitete als Richterin, hatte Einblick in viele von Roses Gerichtsgutachten und wusste, wovon sie sprach. Sie hatte Carl an sie vermittelt.
Da Carl immer noch nicht geantwortet hatte, fuhr sie fort. »Sie haben Ihre Kindheit doch in Wien verbracht …«
Er nickte zur Kommode unter dem Fenster. »Ich habe gesehen, dass Sie ein Buch über Schwangerschaft lesen.« Für einen Augenblick streifte er mit seinem Blick ihren Bauch. Er schmunzelte verlegen. »Bekommen Sie etwa ein Baby?«
»Wenn es so wäre, würde Sie das schockieren?«
Er antwortete nicht, aber sie sah, wie er sich den Kopf zerbrach. Als Nächstes wollte er von ihr vielleicht wissen, warum sie sich vor drei Jahren hatte scheiden lassen und allein lebte. Sie hätte gleich bei der ersten Sitzung ihren alten Ehering tragen sollen – das Schmuckstück mit den drei eingefassten Diamanten schreckte manche Männer ab, neugierige Fragen zu stellen.
»Carl, ich würde gern mit Ihnen über Ihre Kindheit sprechen. Einverstanden?«
»Darf ich Sie Rose nennen?«, fragte er.
Sie atmete geräuschvoll aus. Er gab nicht so leicht auf. Aber sie musste die Situation unter Kontrolle bringen, denn sie wollte den
Fall nicht abgeben – einerseits wollte sie Carl helfen, andererseits aus Neugierde und Interesse dranbleiben.
»Welchen Unterschied würde das für Sie machen?«, fragte sie.
Er richtete sich abrupt in der Couch auf. »Sie stellen jedes Mal eine Gegenfrage! Ich möchte Sie ja nicht duzen, Rose, aber es würde mein Vertrauen zu Ihnen stärken.«
»In Ordnung.« Sie legte die Mappe beiseite. »Offensichtlich ist das ein Thema, das Sie im Moment stark beschäftigt. Reden wir darüber.«
»Ja, gut. Was ist schon großartig dabei, wenn ich Sie Rose nenne?« Unbewusst raffte er die Pulloverärmel auf. Seine sehnigen Muskeln spannten sich. Erneut wurde das rosafarbene Narbengewebe an der Innenseite der Unterarme sichtbar. Eine alte Brandwunde ohne Haare, einem Strang aus Knoten und Falten gleich. Es ließ sich nicht sagen, wie weit die Narben hinaufreichten. Möglicherweise bis zu den Oberarmen.
»Finden Sie mich unsympathisch oder abstoßend?«
»Darum geht es nicht. Meiner Meinung nach sollte eine professionelle Distanz zwischen Klient und Therapeut herrschen«, erwiderte sie. »Ich bin in den Sitzungen für Sie da, ich begleite Sie, damit Sie, im übertragenen Sinne, besser laufen lernen – aber ich bin kein Teil Ihres Lebens.«
»Oh doch, das sind Sie! Ich habe mich dafür entschieden, die Therapie bei Ihnen zu machen. Dadurch werden Sie zu einem Teil meines Lebens.«
»Richtig, ich begleite Sie für eine kurze Etappe, aber ich bin nicht immer für Sie da, wie beispielsweise Ihre Mutter oder Ihre Tante.«
»Aber in dieser Zeit könnte ich Sie doch Rose nennen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Später würde es Ihnen schwerfallen, sich zu lösen. Aber das müssen Sie am Ende einer Therapie.«
Er schwieg.
»Dieses Ende erreichen wir nur
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