Todesfrist
Post aus dem Kasten. Dusty warf sich neben ihr in die Wiese und wälzte sich auf dem Rücken.
»Ja, mach dich nur schön dreckig, damit ich wieder das ganze Haus putzen kann!« Sie kniete nieder und kraulte seinen Bauch. Er stieß ein kehliges Wuff aus.
Da fiel ihr Blick in die Zeitungsbox. Werbebroschüren und Die Presse steckten drin. Außerdem eine weiße Schachtel. Helen bekam ein flaues Gefühl im Magen. Bitte, nicht schon wieder! Sie holte ein Taschentuch aus den Jeans und fingerte damit die Schachtel aus der Zeitungsbox.
Dusty sprang auf und eilte ihr schwanzwedelnd entgegen. Gierig sprang er an ihr hoch.
»Aus!«, ermahnte sie ihn.
Frau Dr. Helena Berger stand auch diesmal auf dem Deckel.
Vorsichtig öffnete sie mit dem Taschentuch den Deckel. Ein Spalt genügte, um zu erkennen, dass ein menschlicher Daumen auf dem roten Filz lag. Helen wurde schwindelig. Mit zitternden Fingern schloss sie den Karton. Sie spürte, wie ihre Knie weich wurden. Wann würde dieser Albtraum enden?
Obwohl der Verrückte damit drohte, schreckliche Dinge mit Anne Lehner anzustellen, falls Helen nicht seinen Spielregeln gehorchte, musste sie Ben Kohler informieren. Sonst hatte sie einen Mord auf dem Gewissen.
Als ihr Handy in fünfzehn Metern Entfernung auf dem Gartentisch läutete, zuckte sie zusammen. Sie stand wie paralysiert da und tat nichts. Dusty lief kläffend über den Rasen, machte kehrt und rannte zu ihr zurück.
Endlich verstummte das Handy. Helen atmete tief durch, nahm die Post und ging zum Haus. Sie stopfte die Schachtel mit dem Taschentuch ins Gefrierfach, wo noch immer der andere in Folie eingewickelte Finger lag. Die Schachtel mit Anne Lehners Ring
befand sich nach wie vor hinter den Büchern im Regal. Sie musste dieses Versteckspiel beenden, sonst würde sie durchdrehen.
Helen setzte sich auf die Terrasse in die Morgensonne. Obwohl die Strahlen ihr Gesicht wärmten, fröstelte sie. Ein Anruf in Abwesenheit – unbekannter Teilnehmer leuchtete auf dem Handydisplay.
Er würde es wieder versuchen. Im selben Moment läutete das Handy. Der schrille Ton ließ sie zusammenzucken. Mit eiskalten Fingern griff sie zum Telefon.
»Hallo?«
Sie erkannte ihn am Atemgeräusch.
»Guten Morgen, Frau Doktor.«
Sie hasste diese elektronisch verzerrte Stimme.
»Wen habe ich entführt und warum? Ihnen bleiben noch etwas mehr als vierundzwanzig Stunden Zeit für die Antwort.«
»Sie haben Anne Lehner entführt«, krächzte Helen.
Er schwieg eine Weile. Schließlich sagte er: »Die Antwort ist falsch.«
Helen war wie vor den Kopf gestoßen. Wie konnte er das behaupten? Die Antwort war richtig! Sie hatte den Ring an Annes Hand gesehen.
»Ich möchte mit ihr sprechen«, verlangte Helen.
»Nein.«
»Sie haben es versprochen!«, rief sie ins Telefon. »Sie sagten, Sie würden mich mit ihr reden lassen, sobald sie wieder bei Bewusstsein ist.«
Helens Herz raste wie verrückt. Sie hörte Rascheln, danach Schritte, das Quietschen einer Tür und das Öffnen einer Luke. Wiederum Schritte. Helen presste das Handy ans Ohr, damit ihr kein Geräusch entging. Sie glaubte, das Stöhnen einer Frau zu hören. Das grässliche Ratschen von Klebeband ließ sie zurückfahren.
Plötzlich hörte sie das verzweifelte Kreischen einer Frau. »Helfen Sie mir! Bitte! Ich werde gefangen gehalten! Ich …«
Die Stimme verstummte. Die Luke schlug zu. Schritte hallten durch einen Gang.
Helen war vollkommen verstört. Die Worte der Frau gingen ihr nicht aus dem Kopf. Vor allem aus einem Grund: Es war die Stimme von Anne Lehner gewesen! Jener Frau, die seit einem halben Jahr bei ihr in Therapie war.
»Diese Frau heißt Anne Lehner!«, wiederholte sie.
»Nein. Sie haben bis morgen früh Zeit«, sagte der Entführer. »Liefern Sie mir die richtige Antwort, bleibt die Frau am Leben – falls nicht, oder falls Sie mit jemandem über unser Spiel oder dieses Gespräch reden, stirbt sie.«
»Das sind Ihre Spielregeln?«
»Ja. Bis morgen.«
»Halt! Warten Sie …« Helen lauschte. Er hatte noch nicht aufgelegt. Sie stand auf und ging ins Haus. »Ich möchte, dass Sie dranbleiben und zuhören, damit Sie wissen, dass ich nicht gegen Ihre Regeln verstoße.«
Sie hielt vor der Kleiderablage im Vorraum. Neben dem Stehkalender auf der Kommode stand das Festnetztelefon, das sie immer noch nicht abgemeldet hatte, da Franks Modem für den Internetanschluss an der Buchse hing.
»Bleiben Sie dran, und hören Sie zu.« Helen legte das Handy neben den
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