Todesfrist
mein Vater unschuldig ist!«, rief sie genervt.
»Moment, nicht so schnell! Es könnte auch beweisen, dass Sie wegen Ihres Zugriffs auf Daedalos von der Fallanalyse Kenntnis hatten, Ihrem Vater davon erzählten und er nach diesem Schema seine Exfrau ermordete.«
Sabine blieb die Luft im Hals stecken. »Das glauben Sie doch selbst nicht!«
Er seufzte. »Was ich in diesem Zusammenhang denke, ist unwichtig. Der Staatsanwalt hat diesen Fall zu seinem persönlichen Feldzug gemacht. Ich kann Ihnen bloß sagen, dass das LKA auch gegen Sie ermittelt.«
Sabine fuhr vom Stuhl hoch. »Gegen mich?«
»Beruhigen Sie sich. Noch sind es die Ermittlungen eines dilettantischen Haufens. Die Kollegen verhören zurzeit sieben Personen, doch von denen ist keine der Mörder. Im Moment weiß die rechte Hand nicht, was die linke tut. Wir haben also mindestens zwölf Stunden, um uns den Kopf zu zerbrechen.«
Uns? Er hatte »uns« gesagt. Sie atmete tief durch. »Reden Sie weiter.«
Er löste sich vom Fenster und ging durchs Zimmer. »Die Frau in Köln wurde am 6. April entführt und am selben Tag getötet. Die Frau aus Leipzig wurde am 20. April verschleppt und erst achtundvierzig Stunden später ermordet. Wir wissen also, dass der
Täter sein Telefonopfer beobachtet. Sobald es die Polizei informiert, so wie in Köln, stirbt die entführte Frau auf der Stelle.«
Zu viele Gedanken schossen Sabine im Moment durch den Kopf, die allesamt ihren Vater betrafen. Intuitiv griff sie nach dem Herz-Medaillon. »Das bedeutet …«
»… dass Ihre Mutter sofort gestorben wäre, hätte Ihr Vater die Kripo eingeschaltet.« Er schien ihre Gedanken lesen zu können.
Schlagartig fiel ihr eine Last von den Schultern. Es fühlte sich an, als löste sich ein Knoten in ihrer Brust. Sie atmete befreit auf. Erst jetzt realisierte sie, dass sie ihren Vater unbewusst für den Tod ihrer Mutter verantwortlich gemacht hatte. Tatsächlich hatte er ihr Leben jedoch um achtundvierzig Stunden verlängert – auch wenn sie am Ende doch durch die Hand des Entführers gestorben war.
»Warum sind Sie in meinem Büro?«
Sneijder lehnte sich an einen Ordnerschrank. »Seit Wochen warte ich auf einen dritten Fall«, sagte er. »Jeder Tatort bringt neue Spuren und führt zu weiteren Spekulationen, was der Mörder mit seinem ›Kunstwerk‹ bezweckt.« Sein Blick fiel auf das Struwwelpeter-Buch. »Öffnen Sie es«, forderte er sie auf.
Sie schlug den Buchdeckel auf. Darunter lag ein Stapel Tatortfotos. Zögerlich griff sie danach. Das erste Foto zeigte die Leiche einer etwa fünfunddreißigjährigen Frau. Wegen des vielen Blutes war die Haarfarbe nicht mehr zu erkennen. Sabines Mund trocknete aus. Sie war schon so viele Jahre beim Dauerdienst, aber so etwas hatte sie noch nicht gesehen. Die Frau war nackt, mit Eisenringen an Arm- und Fußgelenken an den Boden gekettet. Eine Hundeleine knebelte ihren Mund. Den Hintergrund bildeten lehmfarbenes Mauerwerk und die Rundbögen einer leer stehenden Gruft. Sabine glaubte den mittelalterlichen Sakristeikeller zu erkennen, den Sneijder auf seinem Tonband erwähnt hatte. Das nächste Foto zeigte dieselbe Frau unter einer blauen Lampe auf dem Obduktionstisch der Pathologie. Sabine schreckte zurück und schloss für einen Moment die Augen, aber sie hatte schon zu viel gesehen.
»Die Pitbull-Terrier haben nicht viel von ihr übrig gelassen«, erklärte Sneijder. »Der Mörder hat der Frau zuvor Arme und Beine mit einer Klinge aufgeritzt, um durch das Blut den Jagdinstinkt der ausgehungerten Tiere anzustacheln.«
Derselbe Kerl hatte auch ihre Mutter getötet, kam ihr in den Sinn. »Hat die Frau noch gelebt?«
»›Der bitterböse Friederich, der schrie und weinte bitterlich‹«, zitierte Sneijder eine Stelle aus dem Bilderbuch. »Der böse Kerl schlug Vögel tot, trat nach Hunden und peitschte seine Frau aus, bis ihn schließlich ein Hund in den Fuß biss – soweit die Geschichte.« Er machte eine Pause. »Ja, sie hat noch gelebt. Aber der Gerichtsmediziner meinte, ein tiefer Biss in die Halsschlagader habe die Frau gleich zu Beginn getötet. Ich nehme an, das hat Struwwelpeter nicht sehr befriedigt. Er hatte sich dieses Szenario wohl etwas länger erhofft.«
Sneijder hatte den Mörder »Struwwelpeter« genannt. Die Vorstellung, die Figur eines Bilderbuches mit diesen Morden in Verbindung zu bringen, jagte Sabine einen Schauer über den Rücken.
»Ihr Name ist Waltraud Nesselberger. Sie war übrigens keine Lehrerin, sondern
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