Todesfrist
klemmte unter seinem Arm. Er zog das Hosenbein an der Bügelfalte hoch und setzte sich mit einer Pobacke leger auf den Tisch.
Sneijder sah nicht gut aus – das würde er wohl nie –, aber heute
wirkte er wenigstens gesünder als gestern. Nicht mehr so blass. Simon hatte ihn nach Mitternacht ins Mercure in die Altstadt gefahren. Entweder waren die Betten dort bequem, oder Sneijder hatte die ganze Nacht an seinen Akupunkturnadeln gedreht. Seine Wangen waren sogar leicht rosa gefärbt.
»Haben Sie mit meinem Vorgesetzten geredet?«, fragte Sabine, nachdem er nichts sagte.
»Über Daedalos, den ausgedruckten Autopsiebericht und die gestohlene Kassette aus meinem Diktiergerät?«
Sie blieb ihm die Antwort schuldig.
Er setzte sein Leichenhallenlächeln auf und schnalzte schließlich mit der Zunge. »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.«
Wollte er sie verarschen? Nach seinem wächsernen Gesichtsausdruck zu urteilen, meinte er es ernst.
Er legte das Buch auf ihren Schreibtisch. »Haben Sie das bei Haital gekauft?«
»Natürlich habe ich es gekauft!« Was für eine blöde Frage.
Er nickte langsam. »Ich würde gern mit Ihnen über den Fall reden.«
Jetzt plötzlich? War das zu fassen?
»Das wollte ich gestern schon den ganzen Tag«, sagte sie. »Leider muss ich jetzt zu einer Tankstelle am Mittleren Ring, die kürzlich überfallen wurde.«
»Ein Überfall, wie interessant!«
Sie hasste seinen ironischen Ton. »Nicht jeder arbeitet an so wichtigen Dingen wie Sie«, spie sie aus.
»Ich weiß«, seufzte er. »Mich kennen heißt, mich lieben.«
Sie stand auf.
»Setzen Sie sich, wir müssen reden.«
»Jetzt?«
»Wenn nicht jetzt, wann dann?« Er blieb auf dem Tisch sitzen und wartete, bis sie wieder saß. »Das BKA hat die Details der beiden Morde in Köln und Leipzig aus Sicherheitsgründen vor der Öffentlichkeit geheim gehalten. Meine Idee.«
Sie sah ihn fragend an, sagte aber nichts.
»Erstens, um Nachahmungstäter nicht zu ermutigen, ähnliche Morde zu verüben und dem ursprünglichen Täter in die Schuhe zu schieben. Zweitens, um den Mörder, falls er eitel ist, aus der Reserve zu locken, damit er unvorsichtig wird und seinen ersten Fehler begeht. Aber den Gefallen hat er uns noch nicht getan.«
»Warum erzählen Sie mir das, nachdem Sie mich gestern den ganzen Tag gedemütigt haben?«
Er pochte mit dem Finger auf das Bilderbuch. »Ich kannte dieses Buch nicht.« Plötzlich bekam seine Stimme einen merkwürdig vertraulichen Ton, den sie bisher noch nicht von ihm gehört hatte. »Die Kinder in den Niederlanden wachsen mit anderer Literatur auf.« Dann deutete er auf sie. »Ich weiß nicht, wie Sie das angestellt haben, Eichkätzchen, aber Ihr Tipp war goldrichtig. Es sieht so aus, als könnten die Morde in Leipzig, Köln und München nachgestellte Szenen der Geschichten aus diesem Buch sein. Die grausamen Erzählungen vom bösen Friederich, dem brennenden Paulinchen und von den schwarzen Buben – was mich einen Schritt weiter bringt.«
»Sie? Ich dachte, das BKA hat sich weder in diesen Fall eingeschaltet, noch wurde es mit den Ermittlungen beauftragt.«
»Wurde es auch nicht.«
Sabine lehnte sich zurück. »Sie machen mich neugierig.«
Sneijder erhob sich und ging durchs Zimmer. Vor dem Fenster blieb er stehen, stützte die Hände auf die Fensterbank, betrachtete zuerst die Schlingpflanzen und blickte dann zur Kirche. »Was Sie sagen ist richtig. Das LKA Nordrhein-Westfalen ermittelt an der Mordsache Köln und das LKA Sachsen in Leipzig. Doch beide Morde begannen mit einer Entführung – wie im Fall Ihrer Mutter. Bei Geiselnahmen und Erpressung werden die Verhandlungsexperten und Beratergruppen des BKA eingeschaltet. Beide Entführungen endeten tödlich, also komme ich ins Spiel. Pro Jahr erstelle ich etwa dreißig Fallanalysen.«
»Ich bin beeindruckt«, sagte sie zynisch.
»Müssen Sie nicht sein«, antwortete er. »Bei der Besichtigung der Tatorte wusste ich, dass weitere Morde folgen würden und noch weit Schrecklicheres auf uns zukommt. Im Moment sehen wir gerade mal die Spitze des Eisbergs. Also mache ich meinen Job. Ich erstelle ein Gutachten zu beiden Morden und nenne die Fallstudie ›Die 48-Stunden-Rätsel‹. Der Mörder spielt zwei Personen gegeneinander aus, die sich nahestehen: ›Wenn Sie innerhalb von achtundvierzig Stunden herausfinden, warum diese oder jene Person entführt wurde, bleibt sie am Leben. Wenn nicht – stirbt sie.‹«
»Das beweist doch, dass
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