Todesfrist
Tube Gleitgel, Kerzen, Duftöle und Massagecremes lagen in der Lade. Was für
ein Albtraum! Am liebsten hätte sie die Lade herausgerissen und durchs Fenster geworfen. Was für eine Schlampe war Anne Lehner bloß? Die kleine graue Maus, die in der Apotheke schuftete und ständig von Männern ausgenutzt wurde, die sie in Internetforen kennenlernte? Wohl kaum.
Möglicherweise nutzte sie die Männer aus. Wie könnte sie sich sonst dieses Apartment leisten? Frank sponserte sie wohl nicht nur mit einem Rubinring, und als Gegenleistung durfte er das Liebesnest besuchen und Annes Körper mit Massageöl eincremen und mit Gleitgel in sie eindringen.
Helen empfand Ekel. Sie stieß die Lade zu und riss den Kleiderschrank auf. Schwarze und fliederfarbene Unterwäsche stapelte sich in Augenhöhe. Dahinter entdeckte sie einen steifen Hemdkragen. Sie zog das Kleidungsstück hervor. Ein dunkelblaues maßgefertigtes Männerhemd mit den auf die Brust gestickten Initialen F.B., die sie nur zu gut kannte, weil sie solche Hemden selbst von der italienischen Designer-Schneiderei Bernardi & Salucci geholt und bezahlt hatte. Alles in dieser Wohnung wirkte, als führe ihr Mann bereits seit Jahren ein Doppelleben mit Anne.
»Du mieses Schwein!«, rief sie und riss die Unterwäsche aus dem Schrank. »Du hast in deiner Hektik eines deiner Hemden vergessen!«
Sie zerrte alles aus den Fächern. Unterhosen, Socken, Strümpfe, Unterhemden, Büstenhalter und Sweatshirts. Aus dem nächsten Regal packte sie einen Stoß Blusen und schleuderte ihn durchs Zimmer. Es tat gut, etwas zu zerstören. Sie war über sich selbst überrascht, dennoch machte sie weiter und riss mehrere Pullover aus dem Wäschefach. Es war fantastisch, Unordnung in dieser Wohnung zu schaffen! Plötzlich durchfuhr sie ein Schmerz. Blut drang aus einem tiefen Schnitt im Finger. Sie saugte an der Wunde und spürte den bitteren Geschmack von Blut. Ihr Herz raste wie wild.
Woran hatte sie sich geschnitten? Zwischen den Kleidungsstücken lagen Röntgenaufnahmen auf dem Boden. Helen musste sie
in ihrer Wut herausgerissen und sich daran verletzt haben. Keuchend ließ sie sich neben dem Wäscheberg auf die Knie. Es waren keine Röntgenbilder, sondern Ultraschallaufnahmen. Von einem Baby!
Sie nahm den Finger aus dem Mund und hob die Fotos auf. Die Bilder zeigten ein Baby im dritten Monat. War das Annes Kind? Wie konnte das sein? Anne war fünfundvierzig Jahre alt und schwanger? Nach dem Datum am Rand der Bilder zu schließen müsste sie bereits im sechsten Monat sein, doch Helen hatte nichts davon bemerkt. Außerdem hatte Anne während der Sitzungen nie ein Wort darüber verloren.
Helen wurde übel. War Frank etwa der Vater?
Die Aufnahmen fielen ihr aus der kraftlosen Hand. Ihr Blut klebte an den Rändern. Helen sank zurück und lehnte sich mit dem Rücken an den Schrank. Was hatte sie bloß angerichtet? In dem Schlafzimmer sah es aus, als wäre Dschingis Khan mit seinen Horden durchgeritten. Am liebsten hätte sie Frank erwürgt und Anne gleich mit. Doch um Anne hatte sich schon jemand anders gekümmert. Wegen ihrer persönlichen Probleme hatte sie Annes Entführer völlig vergessen.
Warum hatte der Kerl ausgerechnet Helen für dieses makabre Spiel ausgewählt? Was hatte sie mit dieser Sache zu tun? Schön und gut, sie war Annes Therapeutin, und ihr Mann hatte ein Verhältnis mit dieser Schlampe. Genügte das, um sie in die Sache reinzuziehen? Kaum. Es musste mehr dahinterstecken.
Mit jeder Stunde, die verstrich, schwanden Annes Überlebenschancen. Zorn machte sich in Helen breit. Ausgerechnet sie sollte das Leben dieser Frau retten? Wie kam sie dazu? Sollte dieses Scheusal ihr ruhig alle Finger abschneiden und in Schachteln verschicken. Sollte sie elend verrecken! Sie hätte es verdient. Was kümmerte Helen das? Sollte Frank sich doch um seine Geliebte kümmern, die er angeblich nicht kannte und die womöglich sogar von ihm schwanger war.
Was für ein schlechter Witz!
Helen hatte geglaubt, für Frank die perfekte Ehefrau zu sein. Er hasste Kinder – sie jedoch liebte Kinder, hätte so gerne eigene gehabt, konnte aber keine bekommen. Und das einzige Kind in ihrem Leben, Ben Kohlers Sohn Flo, war ihr von einem Mörder und Vergewaltiger genommen worden. Nun sollte eine andere Frau ein Kind von Frank zur Welt bringen! Tränen liefen ihr übers Gesicht.
Eines wusste sie. Frank steckte bis über beide Ohren in diesem Fall drin. Womöglich kannte er sogar Annes Entführer.
Am
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