Todesfrist
runter!«
Der Mann reagierte nicht. Neben dem Fenster führte eine Eisenleiter aufs Dach. Er wollte doch nicht etwa übers Dach fliehen? Oder hatte er vor, über das breite Mauersims in die Nachbarwohnung zu gelangen?
»Ich steige jetzt durch dieses Fenster«, sagte der Mann ruhig. »Falls mich jemand daran hindert, knall ich die Kleine ab – eure Entscheidung.« Der Lauf zielte nun auf Sabine.
Ihr Mund trocknete aus, gleichzeitig wurden ihre Handflächen schweißnass. Er durfte nicht abhauen, bevor sie nicht einige Antworten von ihm bekommen hatte! Warum hast du Scheißkerl meine Mutter getötet? Was hat sie dir angetan? Dich in der Grundschule unterrichtet? War das ihr einziger Fehler?
Kohler trat in die Schusslinie und stellte sich vor Sabine. »Sie sind verhaftet!«
»Ihr Wichser …«
Ein Schuss löste sich. Die Kugel fuhr auf der Höhe von Sabines Kopf in den Türstock. Holz und Mörtel spritzten ihr ins Gesicht. Instinktiv riss sie die Arme hoch und ließ sich zu Boden fallen.
Sneijder feuerte und traf Carl in die rechte Schulter. Carl wurde herumgerissen. Seine nächste Kugel flog durch die Lampe in die Decke. Glasscherben und Verputz prasselten zu Boden. Sneijder lief auf Carl zu, doch der taumelte nach hinten, verlor das Gleichgewicht und wollte sich an den Fensterflügel klammern. Rücklings stürzte er ins Freie. Sneijder bekam für einen Moment sein Hosenbein zu fassen, doch der Stoff riss und glitt ihm durch die Finger.
Ein Schrei und ein dumpfer Schlag drangen nach oben. Sneijder beugte sich aus dem Fenster. »Verdomme! Er ist mit dem Kopf auf die Mülltonne geknallt. Rufen Sie einen Krankenwagen!« Sneijder lief an Sabine vorbei aus der Wohnung.
Kohler blickte aus dem Fenster, dann wählte er den Notruf. Indessen folgte Sabine ihrem Kollegen über die Treppe nach unten. Keuchend gelangte sie in den Innenhof. Er war nur wenige Quadratmeter groß und bot Platz für einige Müllcontainer, Fahrräder, Kinderwagen und eine Holzkiste mit Streugut für den Winter.
»Lebt er?«, rief Kohler aus dem Fenster nach unten.
»Ja.« Sneijder wand Carl die kleinkalibrige Pistole aus der Hand und steckte sie in seinen Hosenbund.
Carl Boni lag in einer Blutlache. In seiner Schulter steckte Sneijders Kugel. Allerdings sah die Kopfverletzung weit schlimmer aus. Aus der Platzwunde am Hinterkopf strömte so viel Blut, dass Sneijder sein Sakko auszog, faltete und auf die Wunde presste.
»Er ist bewusstlos. Kommen Sie her, und pressen Sie die Hand auf seine Schulter!«
Sabine zögerte. Weshalb sollte sie helfen, dem Dreckskerl das Leben zu retten? Sollte er doch abkratzen! So wie die Frauen, die er gefoltert hatte.
»Kommen Sie!«
Ihre Hände zitterten. Am liebsten hätte sie diese Missgeburt auf der Stelle erschossen. Doch falls Carl jetzt starb, würde sie nie Antworten auf ihre Fragen erhalten.
»Los!«
Sie kniete neben Carl nieder und drückte den Handballen auf die Schussverletzung. Carls Augen zuckten unter den Lidern, als erlebte er soeben den schlimmsten Albtraum seines Lebens. Doch der wird erst kommen. Das garantiere ich dir!
Minuten später hörte sie die Sirene der Rettung. Blaulicht fiel in den Innenhof. Ein Arzt und zwei Sanitäter mit einer Trage rannten durch das Gebäude zu ihnen. Mittlerweile starrte ein halbes Dutzend Leute aus den Fenstern. Kohler hielt die Schaulustigen im Zaum.
»Platzwunde am Hinterkopf, eine gebrochene Hüfte und eine Schussverletzung in der Schulter«, erklärte Sneijder dem Arzt.
Der Doktor, ein etwa fünfzigjähriger Mann mit grauem Vollbart, drängte Sneijder ungestüm zur Seite. »Danke, aber ich mache das nicht zum ersten Mal.«
»Sobald der Mann bei Bewusstsein ist, müssen wir ihn befragen.«
»Sicher«, brummte der Arzt, allerdings klang es eher nach Verzieh dich! Er injizierte Carl etwas in den Oberarm. Als er die Platzwunde sah, verzog er das Gesicht. Rasch legte er einen Druckverband an. Die Sanitäter hoben Carl auf die Bahre, klappten das
Fahrgestell aus und rollten damit zum Rettungswagen. Auf dem Kopfsteinpflaster blieben eine Blutlache und Sneijders besudeltes Sakko zurück.
»Der Mann wurde soeben verhaftet und ist gefährlich«, erklärte Kohler dem Arzt. »Ich begleite Sie ins Krankenhaus.«
Bevor Kohler verschwand, händigte Sneijder ihm Carls Pistole aus. »Falls er erwacht, fragen Sie ihn, wo er die Leiche seiner Mutter versteckt hat.«
Kohler nahm die Waffe an sich. »Das BKA Wien ist nicht weit von hier. Im neunten Bezirk,
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