Todesfrist
Bezirke jenseits der Donau hießen »Transdanubien«. Die Wiener hatten einen merkwürdigen Humor. Kohler fuhr in die Lassallestraße und parkte den Wagen in zweiter Spur. Die alten, stillgelegten Straßenbahngleise waren von Unkraut überwuchert, das sich zwischen dem Kopfsteinpflaster durchzwängte. Carl wohnte in einem Altbau. Das fünfstöckige Haus mit der grauen, abbröckelnden Fassade und den teilweise zersplitterten Fensterscheiben wirkte wie ein Relikt aus der Nachkriegszeit. Einige Wohnungen standen bestimmt leer. An der Hausecke befand sich ein Friseur, daneben ein Gemüseladen. In Wien musste es kürzlich geregnet haben. Pfützen standen auf dem Bürgersteig. Es roch nach Hundekot und faulem Obst. Kohler ging auf das offene Doppeltor aus Holz zu, das ins Gewölbe des Hauses führte.
Sneijder jedoch blieb stehen und wies kommentarlos auf einen rostigen Kastenwagen, der zehn Meter vor dem Eingang parkte.
Das Emblem von Ruben & Söhne prangte auf der Seitenwand. »Möglicherweise hat Carl den Wagen geklaut.« Er blickte zum Hausdach. »Bestimmt ist er gerade oben. Vorwärts!«
Sie liefen durch das Tor. Geradeaus führte ein Weg in den Innenhof, rechts schraubte sich eine Wendeltreppe aus schiefen Marmorstufen nach oben.
»Die Wohnung liegt im ersten Stock, Tür Nummer 9.«
Sabine und Sneijder folgten dem Wiener Beamten. Mit Erdgeschoss und Mezzanin waren es eigentlich drei Etagen. Typisch Wien! Der Fahrstuhl, ein nachträglich eingebautes Ungetüm aus Stahl und einer winzigen Kabine mit einer Gittertür, war außer Betrieb, wie ein Schild der Hausverwaltung erklärte.
Carls Wohnung, mit dem vergilbten Neuner unter dem Türspion, war auf Sneijders Anordnung von der Wiener Spurensicherung bereits geöffnet worden. Eine Plombe klebte über dem Schloss. Allerdings war sie zerrissen.
Sneijder schob das Papier mit dem Fingernagel auseinander. »Ich nehme an, Ihre Kollegen waren nicht noch mal drin, weil sie etwas vergessen haben?«, flüsterte er.
Kohler schüttelte den Kopf und zog die Dienstpistole aus dem Holster. In diesem Moment wurde die Fahrstuhlkabine hinaufgeholt. Sabine sah nach oben und erblickte eine alte Frau mit einer leeren Einkaufstüte in der Hand. Der Lift funktionierte, obwohl das Schild immer noch an der Tür hing.
Während die Kabine an ihnen vorbeirasselte, zog Sneijder ebenfalls die Waffe und drückte leise die Türklinke nieder. Nicht abgesperrt! Sneijder trat ein, Kohler folgte ihm. Sabine ging als Letzte hinein.
Der Vorraum lag im Dunkel. Die Fenster der Wohnung blickten in den engen grauen Innenhof. Die Räume waren etwa drei Meter hoch. Die Blümchentapeten stammten garantiert noch aus den Sechzigerjahren. Einige Stromleitungen lagen über Putz. Im Vorraum hing eine nackte Glühlampe von der Decke. Sabine wollte den Lichtschalter betätigen, doch Kohler winkte ab.
Leise schlichen sie in die Küche. Sie war karg eingerichtet, mit Herd, Tisch und einer Sitzecke. Es roch nach Urin. Neben einem Haufen bunter Schaumstoffschnipsel auf dem Boden lagen eine Stabtaschenlampe und eine Leibschüssel. Sneijder rümpfte die Nase. Er stieg über die Schale und drückte den Finger in die feuchte Erde eines Blumentopfes auf dem Fensterbrett. Dann öffnete er den Geschirrspüler. Die Teller waren schmutzig, standen aber bestimmt noch nicht zwei Monate in der Halterung. Kohler drehte neben der Spüle eine Milchpackung herum und deutete auf das Ablaufdatum im Juni. Carl Boni wohnte immer noch hier.
Da hörten sie ein Geräusch aus dem angrenzenden Raum. Es klang wie das Öffnen eines Fenstergriffs.
Sneijder rannte an Sabine vorbei ins Nebenzimmer. Kohler folgte ihm.
»Hände hinter den Kopf, Knie auf den Boden und keine Bewegung!« , dröhnte Sneijders Stimme durch den Raum.
Sabine lief hinterher. Das Wohnzimmer war mit einer Kommode möbliert, einer Couch und einem Computertisch mit PC. Der Monitor flimmerte. Vor dem geöffneten Fenster stand ein drahtiger, hochgewachsener Kerl in blauer Latzhose mit Stahlkappenschuhen. Unter dem ölverschmierten weißen T-Shirt zeichneten sich die Schultern und muskulösen Oberarme ab. Sabine schätzte den Mann auf etwa dreiundzwanzig Jahre. In diesem Moment schoss ihr ein einziger Gedanke durch den Kopf: Du hast meine Mutter ermordet! Sie wollte sich auf ihn stürzen, doch der Kerl hielt eine Pistole in der Hand. Der Lauf war auf Sneijder gerichtet.
»Ganz ruhig, Freundchen«, sagte Sneijder. »Wir wollen nur mit dir reden. Und jetzt die Waffe
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