Todesfuge: Gerda und Otto Königs zweiter Fall (German Edition)
würde man wohl den eigenen Chor so kurz vor dem Konzert überlassen? Schließlich ist die Kantorei nicht irgendein Provinzgesangsverein; Wellensteins Jubiläumskonzert wird immerhin im Rundfunk und im Fernsehen übertragen.“
„Eins dürfen Sie mir glauben, Frau König. Wellenstein hätte niemals das Gleiche für Willi Hensler getan. Wie schon gesagt, die beiden sind einfach zu verschieden. Die Kantorei kann gottfroh sein, dass Hensler damals den Chor übernommen hat, den Wellenstein ihm angeboten hat.“
„Wir sind wirklich sehr zufrieden mit unserem Willi und das weiß er auch.“
„Aber Sie wissen auch, dass das nicht immer so war. Wellensteins Nachfolger hatte doch alles andere als einen leichten Start in der Kantorei. Obwohl er ein gebürtiger Bärlinger ist, im Gegensatz zu Wellenstein, der mit seiner Familie erst nach dem Krieg aus Schlesien gekommen war, hat ihn der Chor ganz schön spüren lassen, dass er nicht auf Wellensteins Stuhl passt. Erinnern Sie sich? Zum Glück hat Willi Hensler sich aber nicht beirren lassen und hat die Leute schließlich durch seine ruhige Art überzeugt. Eigentlich haben die Sänger erst nach und nach gemerkt, dass ihr neuer Dirigent das Beste war, was ihnen passieren konnte. Endlich stand nicht mehr das Ego Wellensteins im Mittelpunkt der Probe sondern tatsächlich die Musik. Sie glauben gar nicht, was das für eine Erfahrung für mich war. Und erst ab da ging es mit der Kantorei so richtig steil nach oben. Wenn Wellenstein heute noch Dirigent hier wäre, wäre die Bärlinger Kantorei tatsächlich nur ein mittelmäßiger Kirchenchor, da bin ich mir ganz sicher.“
Gerda hatte interessiert zugehört. „Umso verwunderlicher erscheint es unter diesen Umständen tatsächlich, dass man in den Proben keine Spur, nicht einmal einen leisen Anflug von Ärger bei Hensler bemerken konnte.“
„Trotzdem könnte ich mir gut vorstellen, dass Hensler froh ist, wenn er die Kantorei wieder unter seiner Leitung hat. Ich finde es sowieso ziemlich seltsam, dass Wellenstein sich nach so langer Zeit darauf besinnt, das Jubiläumskonzert ausgerechnet mit seinem alten Chor zu singen. Die Kantorei ist nicht mehr sein Chor und den Chor, den er damals freudig seinem Freund überlassen hat, den gibt es längst nicht mehr. Die Kantorei ist Spitzenklasse, aber nur weil Wellenstein gegangen ist.“
Die Friseurin war nachdenklich geworden, sie hatte die Stimme gesenkt und sich nah zu Gerlinde heruntergebeugt. „Könnten Sie sich vorstellen, dass Hensler vielleicht hinter den ganzen Wellenstein-Diffamierungen steckt?“
„ Das glaube ich kaum, aber ausschließen kann ich es natürlich auch nicht. Es würde allerdings gar nicht zu Hensler passen. Der ist kein lauter Mensch, der sich in den Vordergrund drängt oder anderen Leuten seine Meinung aufzwingt. Er muss nicht drohen, er weiß, dass er durch seine Arbeit überzeugt und im Gegensatz zu Wellenstein hat er eine Familie, die ihm alles bedeutet. Das würde er nie aufs Spiel setzen, nur weil er sich vielleicht über Wellenstein geärgert hat. Da fällt mir aber noch etwas ganz anderes ein, meine Liebe. Falls Sie für das Konzert noch Helfer brauchen, dann melden Sie sich doch bitte. Für die Kantorei tue ich fast alles.“
Der Chor verbindet eben, dachte Gerda König, gerührt über dieses Angebot. „Danke, Frau Haller, aber wir haben genügend kräftige Männer, die das Podest aufbauen. Genießen Sie einfach nur das Konzert.“
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Dienstagabend / Geheimnisse
Esther Wellenstein war gerade in der Küche damit beschäftigt, die ersten Vorbereitungen für die große Geburtstagseinladung am Freitag zu treffen, als die große Limousine ihres Mannes in die Garageneinfahrt bog. Die Frau des Dirigenten trat ans Fenster. Schon an der Art, wie er aus dem Wagen stieg, erkannte seine Frau, dass ihn das Gespräch mitgenommen haben musste. Wellenstein schob sich mühsam aus dem Auto und kam mit hängenden Schultern auf das Haus zu. Derart niedergeschlagen hatte Esther ihn noch nie gesehen. So lange sie ihn kannte, war ihr Mann dynamisch und energiegeladen. Er war derjenige, der den Takt und das Tempo vorgab. Selbst offensichtliche Niederlagen erkannte er nicht als persönliches Versagen an, sondern deutete sie in seinem Sinne als schicksalhafte Wendungen, denen jeder machtlos gegenübergestanden hätte. Das Erstaunliche war, dass es ihm dabei immer wieder gelang, sein Umfeld davon zu überzeugen, dass die Fehler nicht bei ihm lagen und so
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