Todesfuge: Gerda und Otto Königs zweiter Fall (German Edition)
er bei der Kantorei aufgehört hat. Das war schrecklich. Du weißt doch, wie wichtig ihm die Musik ist.“
Wellenstein hatte genug. Seinen Pflichtteil hatte er erledigt und auf eine tiefschürfende Unterha ltung hatte er keine Lust. Über die musikalischen Unzulänglichkeiten und zerplatzten Gesangsträume seines Bruders wollte er schon gar nicht sprechen. Dieses Kapitel hatte er abgeschlossen und wollte es auch nicht erneut aufschlagen. „Er wird das schon packen, Marga. Er hat ja dich, was Besseres hätte dem alten Schwerenöter nicht passieren können. Also, ich wünsch dir einen schönen Abend. Bis bald. Tschüss Tschüss.“ Wellenstein legte auf und schaltete sein Lächeln aus, er brauchte es nicht mehr heute Abend.
Auf dem Schreibtisch stand ein altes Foto im Silberrahmen. Wellenstein nahm es zur Hand und betrachtete es. Das alte Familienfoto zeigte ihn am Klavier, seinen Bruder mit der Blockflöte in der Hand und seine Mutter mit der Geige bei m gemeinsamen Musizieren. Seine Mutter hatte immer sehr großen Wert auf die musikalische Bildung ihrer Jungen gelegt und ihre Talente gefördert. Wenn es nach seinem Vater, einem kleinen Angestellten, gegangen wäre, dann hätten seine Söhne die gleiche Laufbahn wie er eingeschlagen. Zum Glück hatte sich ihre Mutter dafür eingesetzt, dass die Söhne ihre Musikalität frei entfalten konnten. Ihrem Mann, einem trockenen und unmusischen Bürokraten, hatte sie dann immer nur lachend entgegengehalten, dass er von diesen Dingen nichts verstehe. Obwohl sie es sich nur schwer leisten konnten, hatte sie dafür gesorgt, dass der Ältere den besten Klavierunterricht der Stadt bekam. Und gegen den Willen des Vaters hatte sie, die das außergewöhnliche Talent des Jüngeren erkannte, Gesangsstunden für Ansgar durchgesetzt. Wellenstein spürte, wie ihn die Wehmut zu übermannen drohte. Entschieden stand er deshalb auf und ging zum Klavier.
Esther hatte regungslos vor der Tür ausgeharrt, um nur nichts zu verpassen. Sie wartete noch eine Weile, um zu hören, ob ihr Mann seinen Bruder vielleicht in der Apotheke anrief, um die Angelegenheit zu besprechen. Offensichtlich hatte er es sich aber anders überlegt und begann Klavier zu spielen. Das konnte länger dauern. Esther kehrte in die Küche zurück. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als darauf zu warten, dass ihr Mann von selbst das Gespräch suchte.
Wie so oft schon in seinem Leben hatte d as Klavierspielen Wellenstein auch jetzt geholfen, sein inneres Gleichgewicht wiederzufinden. Bereits zu Schulzeiten hatte er den Ärger des Tages an seinem Instrument vergessen können. Wellenstein hatte frei improvisiert zu Themen aus der h-Moll-Messe und sich die Beklemmung von der Seele gespielt. Jetzt war er wieder er selbst, jetzt konnte er die Fäden des Geschehens wieder in die Hand nehmen. Es war nicht Wellensteins Sache, den Kopf entmutigt in den Sand zu stecken und der Dinge zu harren, die auf ihn zukommen würden. Er war der Lenker und das würde er bis zum Schluss bleiben.
Für Morgen musste er sich noch vorbereiten, er wollte nichts dem Zufall überlassen. Und so ging er an die große Bücherwand und öffnete seinen Safe. Dafür entriegelte er zuerst einen verborgenen Mechanismus, indem er hinter die unterste Bücherreihe griff und einen Hebel umlegte. Anschließend schob er die drei untersten Regalreihen, die mit Bücherattrappen gefüllt waren, zur Seite und zum Vorschein kam das verborgene Schließfach. Wellenstein holte ein dickes Bündel Karteikarten heraus und setzte sich an den Schreibtisch.
Mit ihrer Hilfe würde er morgen Abend gut vorbereitet in die Probe gehen können. Er nahm jede Karte einzeln zur Hand. So ließ er ein Chormitglied nach dem anderen vor seinem inneren Auge erscheinen. Der Dirigent hatte sich zu jedem Sänger und zu jeder Sängerin Notizen gemacht zu deren persönlichen Vorlieben oder wichtigen Familienereignissen, Krankheiten oder Skandalen, in die seine ehemaligen Chorsänger verstrickt waren. Auch wenn Wellenstein viele der Sänger lange nicht gesehen hatte, er konnte sich ihre Geschichten sofort vergegenwärtigen und es schien ihm, als sei es erst gestern gewesen, dass er die Kantorei verlassen habe.
Die Karten einiger Sängerinnen hatte der Dirigent beiseite gelegt und sie sich bis zum Schluss aufbewahrt. Oben rechts hatte er jeweils ein rotes Kreuz gemacht und eine Ziffer mit Dezimale von 1 bis 6 vermerkt. Wehmut kam in Wellenstein auf, als er diese Karten durchblätterte. Mit diesen
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