Todesgeil
Stunden hatte er nichts von Annalisa und Sean gesehen. Zoe konnte es nicht sein. Sie war unten am Strand und kehrte immer über die Außentreppe am Balkon zurück. Die einzige andere Möglichkeit war diejenige, die er am meisten fürchtete. Er war immer noch verblüfft darüber, wie sehr er sich jahrelang in Joe getäuscht hatte. Er wusste, dass Joe ein Chaot war und gerne Party machte. Und das war in Ordnung. Er war ja selber nicht anders. Aber zwischen dem und der Tatsache, ein total verfickter schleimiger Typ zu sein, lagen Welten. Und Emily war noch schlimmer. Sie war die allergrößte Hure und Schlampe, die es je gegeben hatte, und sie benutzte und manipulierte jeden nur. Mittlerweile spielte es auch keine Rolle mehr, ob sie nun Joe verdorben hatte oder umgekehrt. In seinen Augen waren beide nicht mehr zu retten.
Joe tauchte am Kopf der Treppe auf.
Er schwankte bereits wieder und sein Gesicht war rot.
Scheiße! Geht das schon wieder los!
Chuck war es egal, ob der Kerl immer noch besoffen war. Wenn er noch einmal Streit anfangen wollte, würde er ihn fertigmachen.
Dann sah er den roten Striemen unter seinem Auge und runzelte die Stirn.
Was, zum Teufel ...?
Emily kam direkt hinter ihm. Auch sie war nicht ganz sicher auf den Beinen und hatte Tränen in den Augen. Chuck betrachtete sich die beiden und hätte kotzen können. Dann war das Theater also im kleinen Kreis weitergegangen und, so wie es aussah, schließlich in Handgreiflichkeiten geendet.
Doch schon im nächsten Augenblick war er gezwungen, diese Theorie zu verwerfen.
Missy Wallace schob Emily beiseite und stolzierte mit dem bösartigen Selbstvertrauen eines Racheengels ins Wohnzimmer. Sie hatte einen Revolver in der Hand. Noch war der Lauf zu Boden gerichtet, aber er hob sich bereits. Chuck spurtete los, ohne nachzudenken, purer Instinkt trieb ihn von der Bar weg zur Balkontür. Sie war hier, um ihn zu töten. Ihm blieb nichts anderes übrig als zu laufen, selbst wenn dies eine Kugel in den Rücken bedeutete.
Krachend ging die Waffe los.
Die riesige Glasscheibe in der Verandatür zerplatzte, und schlitternd kam Chuck zum Stehen. Zitternd und schwer atmend stand er da und starrte auf die Glassplitter, während er abschätzte, welche Flugbahn die Kugel wohl genommen hatte. Er fiel beinahe um. Um ein Haar wäre sein Hirn jetzt über die Tür verteilt gewesen. Sie kam weiterhin auf ihn zu. Er spürte regelrecht, wie sie auf ihn zusteuerte. Dann fühlte er die Waffe im Nacken und kniff die Augen zusammen.
Das war’s, dachte er.
So werde ich also sterben.
Wahrscheinlich blieben ihm nur noch Sekunden. Sein Herz raste. In seinem Kopf tobte ein wahrer Wirbelsturm sich überschlagender, verwirrter Gedanken und Gefühle. Bedauern, Angst, Verlust, Kummer und die verzweifelte Hoffnung, dass es nach diesem Leben doch noch irgendwie weiterging. Alles, was man eben so fühlt, wenn man dem Tod ins Gesicht sieht. Es war unmöglich, einen Gedanken festzuhalten und sich darauf zu konzentrieren.
Bis ihm Zoe wieder einfiel.
Shit!
Sie war nun schon seit geraumer Zeit unten am Strand. Gut und gern über eine Stunde. Womöglich befand sie sich mittlerweile schon auf dem Rückweg. Jeden Augenblick konnte sie in das bevorstehende Gemetzel hineinlaufen. Ihre Chancen standen zwar nicht sehr gut, aber sie war wohl die Einzige, die überhaupt eine Chance hatte, diese Nacht zu überleben. Wenn Missy und ihre Freunde rasch zur Sache kamen, könnte sie es durchaus schaffen.
Chuck öffnete die Augen.
Mehrere Sekunden waren verstrichen. Der Lauf der Waffe wurde ihm immer noch ins Genick gedrückt.
»Worauf wartest du noch? Bring es schon hinter dich!«
Missy lachte. »Das würde dir so passen, was? Ein schnelles, schmerzloses Ende.«
Chuck schluckte. Unter erheblichen Schwierigkeiten – es fühlte sich an, als wollte er einen Golfball hinunterwürgen. »Ja.«
Erneut ein Lachen, diesmal mit einem gnadenlosen, höhnischen Unterton. »Ich glaube, in deiner Haut möchte ich nicht stecken.«
Die Waffe verschwand von seinem Nacken, als Missy einen Schritt zurücktrat.
»Dreh dich um, Schicki-Micki!«
Chuck drehte sich um.
Mittlerweile waren sie alle hier. Alle bis auf Zoe. Emily und Joe. Annalisa und Sean. Missy und die beiden anderen, die im Zusammenhang mit den Morden im Walgreens-Markt gesucht wurden. Allerdings hatten die drei ihr Aussehen verändert. Missy hatte kurzes, blondes Haar, das stachelig vom Kopf abstand, der Typ und das junge Mädchen beide eine Glatze.
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