Todesgott
Kneipen in Reykjavík blind finden, aber bei diesen Ortsnamen bin ich völlig aufgeschmissen.
Ein trockener und verhältnismäßig warmer Tag kündigt sich an und vertreibt das dumpfe, morgendliche Schweigen zwischen uns. »Aha«, sagt Jóa, »umweltfreundliche Großindustrie anstelle von Umweltverschmutzung. Nennt man das nicht so? Naturaufwertung statt Naturzerstörung?«
Ich nicke dem Lenkrad zu. »Wahrscheinlich setzen sie auf Aluminium oder Stahl oder irgendein anderes feuerspeiendes Ungetüm. Die Leute in Reyðargerði hatten ja mal die Idee, neue Arbeitsplätze durch eine Art Freizeitpark für Touristen zu schaffen. Ich bin letzten Winter wegen einer anderen Angelegenheit dahin gefahren – vielleicht ist es am Ende aber doch dieselbe Angelegenheit – und hab den Bürgermeister und den Vorsitzenden des Stadtrats getroffen, und die waren ganz zuversichtlich, dass der Dorfkönig, Ásgrímur Pétursson, ihr kleines Paradies finanzieren würde. Das Ganze sollte auf seinem Land gebaut werden. Und was war das Ergebnis?«
Jóa scheint darauf zu warten, dass ich die Frage selbst beantworte. Ich rufe mir ins Gedächtnis, wie ich vor ein paar Monaten mit Gunnsa im Flugzeug auf dem Weg in den Sommerurlaub war und die Schlagzeile auf der Titelseite des
Abendblatts
las: VERTRAGSUNTERZEICHNUNG IN HÖFN ! »Tausend neue Arbeitsplätze in zwei Jahren«, wurde der damalige Wirtschaftsminister Ólafur Hinriksson zitiert. Er brüstete sich mit den erfolgreichen Verhandlungen mit der amerikanischen Firma Industral bezüglich des Baus einer Aluminiumschmelze mit dazugehörigem Wasserkraftwerk in den Ostfjorden. Unglücklicherweise ist Ólafur der Schwiegersohn des Dorfkönigs Ásgrímur Pétursson, was aber selbstverständlich rein gar nichts mit der Sache zu tun hat.
»Das Ergebnis ist ja allseits bekannt«, erkläre ich Jóa. »Nach Reyðargerði und in die angrenzenden Gemeinden ziehen aufgrund der über tausend Jobs im Baugewerbe und in der Schwerindustrie immer mehr ausländische Arbeitskräfte, weil wir Isländer uns zu fein dafür sind.«
»Aber da gibt’s doch einen wahnsinnigen Aufschwung«, sagt Jóa.
»Manchmal folgt auf einen wahnsinnigen Aufschwung ein tiefer Fall.«
»Ach, du weißt doch, was ich meine. In dieser bettelarmen Gegend, aus der die Leute in Scharen weggezogen sind, weil es nur die instabile Fischindustrie gab, wird jetzt kräftig investiert.«
»Aber wendet das wirklich das Blatt?«, gebe ich zu bedenken, mehr, um das Gespräch in Gang zu halten, als ihr zu widersprechen. »Nehmen die Ausländer nicht einfach den Platz der Isländer ein, die nach Reykjavík ziehen?«
»Hast du was gegen Ausländer?«
»Überhaupt nicht«, beeile ich mich zu sagen und denke an meine Argumentation beim Telefonat mit Trausti Löve. »Ich möchte nur darauf hinweisen, dass ein neues regionales Problem das alte ablöst. Und da stellt sich doch die Frage: Wollen wir ein rein isländisches Regionalproblem oder ein multikulturelles Regionalproblem?«
Es ist noch gar nicht so lange her, da wurde ich mir durch die Bekanntschaft mit intoleranten Menschen meiner eigenen Vorurteile bewusst.
Als ich begann, meine eigene Situation zu verstehen, vergrößerte sich auch mein Verständnis für die Situation anderer. Seitdem versuche ich, mich weiterzuentwickeln, bin aber darauf bedacht, es nicht zu überstürzen.
Jóa kann offenbar meine Gedanken lesen.
»Hat Gunnsa immer noch diesen farbigen Freund?«
»Raggi? Ja, zum Glück. Er ist wirklich ein anständiger Kerl.«
»Aber am Anfang warst du doch ziemlich schockiert, oder?«
»Allerdings«, gestehe ich lächelnd. »Erstens, weil meine kleine Gunnsa sich in einen vierzehnjährigen Teenager verwandelt hatte, zweitens, weil sie angefangen hatte zu rauchen, und drittens, weil sie einen Freund hatte. Und der war auch noch farbig. Viel mehr kann einem ja wohl gar nicht zugemutet werden.«
»Und dann hast du dich auch noch in seine Mutter verknallt!«
Jetzt bin ich sprachlos. »Tja, das war so ein … ich weiß auch nicht …«
»Ist es vorbei?«
»Du bist ja ganz schön neugierig, Jóa. Ich weiß es nicht, aber ich glaub schon. Ich hab schon länger nicht mehr mit Rúna gesprochen. Ich musste mir über einiges klarwerden. Ich bin einfach noch nicht so weit.«
So viel zur Weiterentwicklung.
»Du warst einfach nicht wirklich in sie verliebt. Wenn man sich nicht sicher ist, liegt es meistens daran.«
»Vielleicht ist das der Kern der Sache. Vielleicht hab ich
Weitere Kostenlose Bücher