Todesgott
groß ist wie mein Schrank in Akureyri. Höskuldur ist ein kleiner Mann Ende fünfzig mit einem grauen Haarschopf und einer ebenso grauen Gesamterscheinung. Unter den trübsinnigen Augen liegen tiefe Ringe, wie Prellungen in einem ansonsten freundlichen, eckigen Gesicht. Irgendetwas an diesem Gesicht ist mir vertraut.
Ich schalte das Aufnahmegerät ein.
»Ja, war ein ziemlich anstrengendes Wochenende«, stöhnt er, »aber nichts, was man an die große Glocke hängen sollte. Die Leute haben sich nur ein bisschen vergnügt.«
»Wo denn?«
»In der neuen Kneipe, dem Reyðin, ein Stück weiter die Straße runter.«
»Ach, habt ihr jetzt sogar eine Kneipe im Ort?«
Höskuldurs Gesicht hellt sich auf. »So ist es, und eine zweite ist geplant. Das Hotel reicht nicht mehr aus.«
»Großartig«, sage ich, »aber worum ging es denn bei diesem Vergnügen, wie du die Schlägerei nennst?«
»Tja, schwer zu sagen, wie so was anfängt. Sicher ist nur, wo es endet. Nämlich hier bei uns.« Er lacht lauter, als angebracht wäre.
»Und wer hat sich geprügelt?«
»Auch schwer zu sagen. Wenn alles drunter und drüber geht, ist schwer zu sagen, wer sich prügelt und wer nicht.«
Hier ist wohl so einiges schwer zu sagen. »Waren es Einheimische?«
Höskuldur zuckt mit den massigen Schultern. »Ist mittlerweile auch schwer zu sagen, wer einheimisch ist und wer nicht.«
Puh.
Ich werfe der vor sich hin grinsenden Jóa einen Blick zu. Sie beginnt, den Hauptkommissar zu fotografieren, der sich prompt in seinem Stuhl aufrichtet und ein ernstes Gesicht aufsetzt.
»Verstehe«, lüge ich. »Gab es ernsthafte Verletzungen?«
»Ein Armbruch, eine Gehirnerschütterung, zwei Veilchen, eine schlimme Verletzung von einem Tritt in die Eier, ein paar kleinere Wunden und blaue Flecken. Das ist alles.«
»Es wurden also keine Waffen benutzt? Messer, Flaschen, Gläser oder so?«
Er lehnt sich wieder in seinem Stuhl zurück, denn Jóa hat aufgehört zu knipsen. »Ach ja, doch, stimmt. Hier und da ein paar Schnittwunden. Einige wurden genäht.«
»Und wen habt ihr festgenommen?«
»Ein paar durften bei uns übernachten.«
»Sowohl gestern als auch vorgestern?«
»Vorgestern fünf, gestern zwei. Das war schon alles.«
»Die Polizei ist also nicht besorgt, dass hier unhaltbare Zustände entstehen könnten, wenn einzelne Gruppen aneinandergeraten? Zugezogene und Einheimische?«
Höskuldur zögert. »Natürlich machen wir uns Sorgen über Gewalt und Alkoholmissbrauch, aber das war schon immer so. Daran hat sich nichts geändert.«
»Und es ist nicht mehr geworden, seit so viele Leute wegen der Bautätigkeiten herziehen?«
»Hör mal, mein Freund«, sagt der Hauptkommissar und beugt sich über den Schreibtisch. »Natürlich wird alles mehr, wenn mehr Leute in einem so kleinen Ort wohnen. Mehr Menschen, mehr Arbeitsplätze und mehr Aufgaben. So nennen wir das, was du Probleme nennst. Und wir lösen diese Aufgaben, nach und nach. Ich will nur hoffen, dass wir sie in Ruhe lösen können. Man soll kein Öl ins Feuer gießen.«
»Ach? Hier brennt also ein Feuer?«
Höskuldurs liebenswürdiges Gesicht hat sich im Laufe unseres Gesprächs verdunkelt. Jetzt ist es voller Misstrauen. »Ich möchte dich herzlich bitten, mir die Worte nicht im Mund umzudrehen. Ich bestreite nicht, dass wir in schwierigen Zeiten leben, und in diesem Fall müssen alle verantwortlich handeln. Auch die Medien.«
»Da bin ich ganz deiner Meinung«, sagte ich, »aber die sogenannte Verantwortung liegt manchmal nicht weit entfernt von Verschleierung oder zumindest Beschönigung der Tatsachen, nicht wahr? Fällt das nicht auch unter das Thema Verantwortung?«
Er erhebt sich vom Schreibtisch und reicht mir seine große Pranke. »Ich vertraue darauf, dass du dich an Ersteres hältst«, sagt er, nun wieder freundlich. »Ich hoffe, du hast mein Vertrauen verdient.«
Löve, denke ich bei mir.
An der Hotelrezeption auf der anderen Seite der Straße herrscht noch dieselbe Ordentlichkeit wie beim letzten Mal. Doch wo es vorher eintönig und trostlos war, erblickt man nun in jeder Ecke eine wuchernde Blumen- und Pflanzenpracht. Hinter der Rezeption steht derselbe Mann mit dem schmalen, hohlwangigen Gesicht, der schon bei meinem letzten Besuch gemeinsam mit seiner thailändischen Frau das Hotel geführt hat. Er ist immer noch schmal und hohlwangig, aber besser gekleidet und gepflegt. Ich stelle Jóa und mich vor und erkläre, ich hätte letzten Winter schon einmal bei ihm
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