Todesgott
unbewusst vom späten Familienglück geträumt. Zwar von einer ziemlich speziellen Patchworkfamilie, aber immerhin von einer Familie.«
Wir schweigen eine Weile. Auf der Straße durchs Hochland ist nicht viel Verkehr. Nach und nach wird die Landschaft immer eintöniger und erinnert an eine schwarze Samtdecke mit vereinzelten Staubflecken.
Ich sage: »Hast du im Moment eine Freundin?«
»Nicht direkt«, antwortet Jóa, und dabei bleibt es.
Ich schalte das Radio ein. Auf Rás 1 wird eine Messe übertragen. Der Pastor verkündet:
Heute ist Palmsonntag. Wer hielt an jenem Tag vor über zweitausend Jahren einen Palmzweig in der Hand? Jesus, der triumphierende Messias, hielt Einzug in Jerusalem, und überall jubelten ihm die Menschen mit Palmzweigen zu. Doch in der darauffolgenden Woche hatte sich alles gewandelt. Da rief eine andere Gruppe von Menschen: Kreuzigt ihn!
Er spricht weiter über die letzten Tage Christi auf Erden, an die uns diese wichtigste Woche des Kirchenjahres erinnern soll.
Die Karwoche ist keine Zeit der Ausschweifungen und Völlerei, sondern der Gebete und Reue. Wir begeben uns mit Jesus auf den Leidensweg, welcher zum Leben aller Menschen gehört. Und seine Geschichte lehrt uns, dass kein Leiden, auch nicht unser eigenes, sinnlos ist. Jesus hat gesagt: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Diese Worte richten sich an alle Sünder, nicht nur an die Kreuziger Jesu in Golgatha. Und wenn wir Jünger Christi werden wollen, müssen wir sein Kreuz tragen und ihm tagtäglich folgen. Das Leidenskreuz ist Teil des täglichen Lebens aller Christen. Die Geschehnisse der Karwoche helfen uns, das Leid in unserem eigenen Leben zu verstehen …
»Vielen Dank für diesen Beitrag, Einar.« Jóa greift nach dem Radioschalter. »Jetzt haben wir aber erst mal genug gelitten.«
Mein letzter Besuch in Reyðargerði war im tiefsten Winter. Kurz nach Mittag wurde es schon wieder dunkel, so als hätte jemand das Licht ausgeschaltet, und das Dorf am Meer kauerte unter den Schneemassen, während in den Bergen bereits weitere Schneefälle angekündigt waren. Nur wenige Menschen kraxelten durch die Schneehaufen, die sich zwischen den Häusern auftürmten. Ich war der einzige Hotelgast.
Das Hotel Reyðargerði sieht immer noch aus wie ein Schulgebäude aus den siebziger Jahren. Die ausländischen Fahnen, die damals schlapp an den Stangen vorm Eingang hingen, flattern jetzt stolz im Wind. Das alte Steinhaus mit den Büros der Stadtverwaltung auf der gegenüberliegenden Seite der Hauptstraße und der danebenliegende Kasten von Ásgrímur Péturssons Firma sind frisch renoviert und gestrichen. Hier pulsiert das Leben – Menschen, Autos und Maschinen, sprich: Geld. So sieht also ein isländisches Kaff mit ein paar hundert Einwohnern nach einer Rundumsanierung aus.
Es ist kurz vor ein Uhr mittags. »Seit wann schickt man einen Reporter und eine Fotografin auf eine fast fünfstündige Fahrt über Berg und Tal, um Infos über eine Wochenendschlägerei zu sammeln?«, frage ich Jóa, nachdem ich den Wagen auf den überfüllten Hotelparkplatz bugsiert habe.
»Seit gestern«, antwortet sie.
»Und der einzige Unterschied zwischen diesen Wochenendschlägereien und dem, was in Island seit Jahrzehnten wenn nicht gar Jahrhunderten, jedes Wochenende stattfindet, ist, dass die Beteiligten unterschiedliche Sprachen sprechen und vielleicht unterschiedliche Hautfarben oder Gesichtszüge haben. Was soll der ganze Quatsch eigentlich?«
»Ich finde, du verstrickst dich langsam in Widersprüche, mein Lieber«, sagt Jóa und steigt mit der Fototasche über der Schulter aus dem Auto.
Ich schalte den Motor aus und öffne die Tür. »Das ist ja wohl nichts Neues, oder?«, frage ich und mache ein beleidigtes Gesicht. »Ich kann einfach nichts gegen ständig neue Widersprüche tun. Die gab’s bei mir doch schon immer reichlich.«
Die Polizeiwache von Reyðargerði befindet sich im Erdgeschoss neben der Stadtverwaltung. Sie scheint nur aus einem heruntergekommenen Empfangstresen und zwei Büros zu bestehen. Irgendwo dahinter müssen die Zellen liegen. Was wäre eine Polizeiwache ohne Zellen?
Die Verschönerungsarbeiten sind noch nicht bis hierher vorgedrungen. Von den Wänden blättert graue Farbe; sie sind eingerissen und wie von Huftritten zerbeult.
Die Verschönerungsarbeiten sind ebenfalls an Hauptkommissar Höskuldur Pétursson vorbeigegangen, der uns in ein Büro gebeten hat, das ungefähr eineinhalbmal so
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