Todeshunger
nichts weiter -, aber ich schwöre mir, dass ich nicht so enden werde.
»Sieh es von der positiven Seite«, ruft mir Adam über die Lichtung hinweg zu.
»Es gibt eine positive Seite?«
»Na klar. Du bist davongekommen. Das da könntest auch du sein. Oder ich …«
Ich beachte ihn nicht weiter und folge einem schmalen Trampelpfad, der zwischen zwei weiteren, an die fünfzig Meter langen Halden von Toten hindurchführt. So abgelenkt bin ich, dass ich am Ende der Reihen den Halt verliere, als der Boden plötzlich unter meinen Füßen wegbricht. Ich kippe nach hinten und lande auf dem Arsch; vor mir befindet sich ein riesiges Loch, mindestens zwanzig Meter im Quadrat und so tief, dass ich an manchen Stellen nicht einmal den Boden sehen kann. Ich weiß sofort, was das ist – ein Massengrab, in dem eine unermessliche Zahl von Leuten liegt, die wie Adam und ich sind. Ich stehe auf und gehe vorsichtig um den Rand der Grube herum. Vor mir sehe ich eine Planierraupe mit einer gewaltigen Schaufel. Zuerst denke ich, dass sie damit die Mulde ausgehoben haben, doch dann entdecke ich Stoffreste an den Zähnen der Schaufel und begreife, dass sie damit die Toten hineingeschaufelt haben. Direkt unter mir, an der Stelle, wo man sie reingekippt hat, reichen die Toten fast bis zum Grubenrand herauf. Es erweckt den Anschein, als würden sie übereinanderklettern, um da rauszukommen.
Im Laufschritt kehre ich zu Adam zurück und zwinge
mich, den Blick von den Toten abzuwenden. Wie viele Anlagen wie diese gibt es, und sind einige davon gar noch in Betrieb? Werden andernorts welche von uns getötet, während wir hier stehen? Und dann kommt mir noch ein Gedanke, bei dem mir eiskalt wird: meine Tochter Ellis. Musste sie an so einem Ort ihr Leben lassen? Ist sie gerade dort und wartet auf den Tod? Ist sie hier ? Ein paar Sekunden lang wende ich mich verzweifelt den Toten zu, betrachte sie und befürchte, das nächste Gesicht, das ich sehe, könnte das meines kleinen Mädchens sein. Doch so schnell mich die unerwartete Panik überkommen hat, gewinnt die Vernunft wieder die Oberhand. Wenn sie hier ist, kann ich nichts mehr für sie tun. Ich muss mich an die Überzeugung klammern, dass sie noch lebt. Ich habe doch nur noch sie.
»Wo stecken die alle?«, fragt Adam.
»Wer?«
»Die Wichser, die das getan haben. Wo sind die hin?«
»Ich weiß es nicht«, antworte ich und führe ihn hinter dem Hauptgebäude zu einer Gruppe von drei quadratischen, beigefarbenen Fertigcontainerhütten, die im Vergleich zu allem anderen recht neu aussehen. »Vermutlich haben sie die Anlage einfach aufgegeben. Vielleicht wurden sie angegriffen.«
»Hoffentlich haben die Dreckskerle bekommen, was sie verdienen.«
Zwei der fast identischen, scheunenartigen Gebäude sind abgeschlossen. Die Wellblechtür des dritten jedoch nicht. Ich öffne sie ganz und trete ein. Es ist eng im Inneren, und der Raum ist halb mit Säcken von Chemikalien gefüllt. Egal. Für heute Nacht genügt es. Niemand, der seine fünf Sinne beisammen hat, dürfte hierherkommen,
und falls doch, stellen wir uns einfach tot. Ich hätte an der Seite jedes Einzelnen der Abertausenden von Toten hier gekämpft, aber sie sind alle nur noch verrottendes Fleisch; wir können sie als Deckung benutzen.
Adam setzt sich auf einen Stapel Säcke und versucht es sich bequem zu machen, während er ununterbrochen über Belanglosigkeiten plappert. Ich schließe die Tür, suche mir eine kleine, freie Stelle in der hintersten Ecke auf dem harten Betonboden, bette den Kopf auf einen Plastiksack, in dem sich Gott weiß was befindet, und versuche zu schlafen. Es könnte etwas Giftiges oder Ätzendes sein, doch das spielt keine Rolle. Ich decke mich mit dem Mantel zu und schließe die Augen, weil es mir in meiner Müdigkeit vollkommen gleichgültig ist.
4
E in Krachen und ein gedämpfter Schmerzensschrei wecken mich. Hastig richte ich mich auf, sehe mich in dem dunklen Raum um und überlege einen Moment angestrengt, wo ich bin. Das Zusammenspiel von beißendem Chemikaliengeruch und Verwesungsgestank hilft meinem Gedächtnis auf die Sprünge. Wo ist Adam? Ich kann ihn flüchtig vor der offenen Tür erkennen, wie er zum Hauptgebäude zurückhinkt. Ich schnappe mir das Messer aus dem Rucksack und laufe ihm hinterher. Kaum habe ich zwei Schritte aus dem Wohncontainer hinaus gemacht, höre ich weiter vorn fremde Stimmen. Es sind Menschen auf der anderen Seite der Fabrikhalle. Ich zerre Adam aus dem Weg und bleibe erst
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