Todesinstinkt
reizendes Gesicht. »Ich muss sagen, wenn ich einen Mädchenhändlerring hätte, dann wären Sie auf meiner Opferliste ganz oben.«
Später am Vormittag leerte Younger den Inhalt eines großen Sacks auf das Deck, den er als Teil seines Gepäcks mitgebracht hatte. Zum Vorschein kamen ein Baseball, ein Schläger, ein Haufen Holzklammern und Metallplatten sowie eine Montageanleitung. Eine halbe Stunde später hatte er ein Schlagmal errichtet — einen freistehenden Sockel, auf dem ungefähr hüfthoch ein Baseball lag, damit ein Schlagmann üben konnte. Danach faltete Younger ein Netz um den Baseball und befestigte es mit einem langen, von einem Seemann geborgten Seil. Das andere Ende des Seils band er an eine Winde. Dann legte er den Ball im Netz auf den Sockel und gab Luc Unterricht im Schlagen. Nach jedem Hieb holten sie den tropfnassen Ball mit dem Seil ein.
Schon bald standen mehrere männliche Passagiere Schlange. Sie legten Hut und Jacke ab, um in Hemdsärmeln einen Versuch zu machen. Natürlich wollten auch die wenigen anderen Jungen mitmachen, die sich auf dem Schiff befanden. Younger schickte sie zu Luc, der ihnen mit ernster Miene die Erlaubnis erteilte und dadurch trotz seiner Stummheit im weiteren Verlauf der Reise zu einem unentbehrlichen Mitglied der kleinen Schar von Jungen wurde.
Von allen, die sich an diesem Tag mit dem Baseball versuchten, gelangen Younger die schwungvollsten Schläge. Doch am nächsten Tag gesellten sich mehrere Matrosen dazu. Einer von ihnen war ein kräftiger Kerl, der im Krieg für die Brooklyn Robins gespielt hatte und der, nachdem er gleich das Hemd ausgezogen hatte, eine solche Ruth’sche Wucht in seinen ersten Hieb legte, dass das Seil zu kurz war. Das Netz zerriss, und der Ball war verloren. Younger probierte es mit mehreren Ersatzgegenständen — einer Orange, einer vom Schiffszimmermann gefertigten Holzkugel,
einem geliehenen Golfball –, aber nichts hatte die Eigenschaften eines Baseballs, und damit hatte sich die Sache erledigt.
Während die Tage auf dem Ozean fast unmerklich ineinander übergingen, musste Younger feststellen, dass er bei Colette nicht vorankam. Das Verhältnis zu ihr war durchaus vertraut, blieb aber rein freundschaftlich. Sie war herzlich, aber zugleich reserviert. Und je näher Europa rückte, desto spürbarer wurde ihre Distanziertheit. Manchmal ertappte er sie dabei, wie sie hinaus aufs Meer starrte in eine Zukunft, die ihm verschlossen blieb. Oder war es eine Vergangenheit – die Erinnerung daran, wie sie sich in Paris in einen frommen, leidenden Soldaten verliebt hatte, dem ihr Herz gehörte, obwohl sie ihn mehr als zwei Jahre nicht mehr gesehen hatte?
»Sie sind ein Held für ihn«, sagte sie eines Tages, als sie sich aus ihrer Versunkenheit löste.
»Für wen?«
»Für Luc.«
»Wirklich?« Younger schaute sie an. »Und wer ist Ihr Held?«
»Ich habe zwei: Madame Curie und meinen Vater. Eigentlich ein Glück für mich. Die Deutschen haben meinen Vater getötet, als er noch ein Held für mich war: furchtlos, stark, in jeder Hinsicht edel. Das konnten mir nicht einmal die Deutschen wegnehmen. Aber Luc kann sich kaum noch an ihn erinnern. Früher habe ich versucht, ihm Mutter und Vater ins Gedächtnis zu rufen, habe ihm Geschichten über Vaters Kraft und Tapferkeit erzählt. Aber er wollte mir nicht zuhören. Es interessiert ihn gar nicht. Dabei braucht er eigentlich nichts so sehr wie einen Vater.«
»Und Sie tun Ihr Bestes, um einen für ihn zu finden?«
Sie antwortete nicht.
»Glauben Sie wirklich, dass er Sie liebt? Hans, meine ich. Er hat Ihnen in zwei Jahren keinen einzigen Brief geschrieben. Für mich klingt das nicht unbedingt nach Liebe.«
»Es ist unwichtig, ob er mir schreibt oder nicht.«
»Sie meinen, Sie lieben ihn so oder so? Das stimmt nicht. Tut mir leid, aber das stimmt nicht. Wenn Sie ihn lieben würden, würden Sie nur an eins denken: wie er reagieren wird, wenn er Sie sieht. Sie würden sich mit Zweifeln herumschlagen, ob er sich noch für Sie interessiert. Sie würden ständig in den Spiegel schauen. Und Sie würden sich nicht eingestehen, dass er Ihnen nicht geschrieben hat. Sie würden sich einreden, dass er Ihnen in das Krankenhaus in Paris geschrieben hat und dass Sie die Briefe nie erhalten haben. Stattdessen behaupten Sie, dass es unwichtig ist.«
Sie antwortete nicht.
»Ist er so gut aussehend? Oder haben Sie sich ihm hingegeben und glauben jetzt, dass Sie ihn deswegen heiraten müssen?«
Colette
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